Spuren romanischer und jüngerer Annexbauten östlich der Sakristei

Guido Helmig

Die Renovation einer Kirche zeitigt in aller Regel neue Erkenntnisse zur Baugeschichte des oder vielmehr der Gotteshäuser, denn eigentlich stellt der bestehende Kirchenbau ja «nur» gerade den letzten, sichtbar erhaltenen Bauzustand einer meist vielschichtigen Baugeschichte dar. Dass selbst im aufgehenden Mauerwerk noch umfangreiche Teile älterer, im Falle der Riehener Dorfkirche gar beinahe lOOOjähriger Vorgängerbauten stecken können, hatte bereits die Renovation von 1942 gezeigt.18) Im wesentlichen sind damals bereits die Hauptbauphasen von St. Martin erfasst worden (Plan Seite 7); von der Auffassung einer bis in karolingische Zeit zurückreichenden Datierung der ersten fassbaren Anlage ist die Forschung in der Zwischenzeit allerdings abgerückt.19) Die Datierung der ältesten Steinbauphase ins 11. Jahrhundert rückt den Zeitpunkt der Konzeption dieser Anlage ins Realistischere, zeugt aber nach wie vor von einem für dörfliche Verhältnisse dieser Zeit doch ungewöhnlich qualitätvollen Bau. Noch ältere Vorgängerbauten sind nicht zuletzt aufgrund älterer Gräberfunde anzunehmen, aber im übrigen bisher nicht wirklich belegbar. Der benachbarte Meierhof innerhalb des zeitgenössisch ummauerten Areales des etwas aus der umgebenden Topographie herausragenden Kirchbuckes, wohl das Domizil einer höhergestellten Familie, mag andeuten, dass sich hier ein Grundherr einen repräsentativen burgartigen Sitz schaffen wollte. Ob darin tatsächlich die später als Patronatsherren in Riehen auftretenden Freiherren von Uesenberg Einsitz genommen hatten, müssen künftige Nachforschungen erst noch erhärten.20) Die Brüder Burchard und Rudolf dieses Familienzweiges hatten dem Kloster Wettingen 1238 jedenfalls ihren Grundbesitz zusammen mit der Kirche im Riehener Bann abgetreten.21)

 

Im Jahre 1982 wurden im Winkel östlich der heutigen Sakristei, beim Ansatz des Chores, archäologische Sondierungen vorgenommen, die ergaben, dass an den romanischen Grundriss (Plan Seite 7) mit den querschiffartigen Annexen nordöstlich ursprünglich noch weitere Annex bauten anschlössen, auf die man 1942 - trotz der dort vorgenommenen Sondierung (!) - nicht gestossen war. Ein halbrunder Chorgrundriss und weitere Mauerteile wurden offengelegt.22) Sie lieferten nach der Auffassung des Ausgräbers aber nicht nur den Nachweis des bereits erwähnten Seitenchores, sondern auch eines aus dem Orientierungsschema der romanischen und der nachfolgenden Kirchenbauten abgedrehten älteren Mauerwinkels.23) Der nur noch isoliert, das heisst ohne Anschlüsse an die benachbarten Fundamentteile beobachtete Mauerwinkel (Schema Seite 18, lb) wurde in Analogie zu früher dokumentierten, ähnlich orientierten Mauerteilen als Element einer mutmasslich älteren Vorgänger-Anlage angesehen.24) Diese Auffassung wird auch in der zuletzt erschienenen Publikation über die Riehener Kirchenburg vertreten.25) Bedingt durch die Enge der kleinflächigen Sondierungen im Bereich der durch viele Bestattungen und moderne Leitungsstrassen sowie die Sondierung von 1942 gestörten archäologischen Schichten konnten 1982 die Befunde nicht mit der wünschbaren Deutlichkeit untersucht werden. Die erst im Verlauf der jüngsten Renovation in Aussicht gestellte Freilegung der Kirchenfundamente für die Verlegung eines Blitzschutzkabels rund um die Kirche und zur partiellen Sanierung feuchter Fundamentpartien führte, in Verbindung mit den neuen Fragestellungen der baugeschichtlichen Befunde über der Sakristei, zu einer nochmaligen intensiven Untersuchung der bereits 1942 und 1982 freigelegten Mauerbefunde.

Neue Erkenntnisse zu den archäologischen Befunden östlich der Sakristei

Im Rahmen des hier vorgelegten Zwischenberichtes sollen nur die Befunde östlich der Sakristei kurz zur Sprache kommen; die aus der Neuinterpretation der Annexbauten resultierenden Schlüsse bezüglich der Baugeschichte der Kirche selbst bleiben der abschliessenden Berichterstattung vorbehalten.26) Auf dem Schema Seite 18 sind die 1982 und die kurz vor Abschluss der Renovation von 1993 erneut offengelegten archäologischen Befunde dargestellt; die untersuchte Fläche ist auf dem Grundplan Seite 7 mit gestrichelter Linie eingezeichnet. Hier können nun sicher sechs Bauphasen unterschieden werden, die den steten Wandel der Annexbauten seit der Romanik verdeutlichen.

Eines der wichtigen Ergebnisse der Untersuchungen an den Fundamenten ist die Tatsache, dass die frühromanische Kirche (Phase la) einen eingezogenen und mit grosser Wahrscheinlichkeit halbrunden Chor mit deutlicher Schulter besass, der nicht nahtlos in die Langschiffmauern überging, wie dies seit Laurs Untersuchungen tradiert wurde.27) Auch wenn die Anschlüsse des schon erwähnten fragmentarischen Mauerwinkels an das Kirchen- respektive Sakristeifundament durch verschiedene Eingriffe unterbrochen sind, möchten wir diesen doch eher als einen ersten, an die frühromanische Kirche angebauten Annex interpretieren (= Phase lb) und nicht wie bisher als Relikt eines Vorgängerbaues vor Phase 1. An den rechteckigen Ostabschluss dieses Annexes wurde eine erste, ebenfalls eingezogene Rundapsis angefügt, die an die Chorschulter der Phase la anstiess (Phase 2). In der folgenden Phase 3a wurde die Hauptapsis der Kirche erneuert und erhielt ein verstärktes Fundament. Sie wurde rund oder polygonal ausgestaltet; der kurze freigelegte Fundamentabschnitt erlaubt diesbezüglich noch keine definitive Interpretation. Wohl nur kurze Zeit nach der Vollendung der Hauptapsis wurde - noch im Rahmen desselben Baukonzeptes - das Fundament der halbrunden Seitenapsis aussen ummantelt und diese durch den Abbruch der bisherigen Innenmauer inwendig vergrössert (Phase 3b). Vielleicht standen diese Massnahmen in Zusammenhang mit der Einwölbung der Apside und/oder des westlich anschliessenden Raumes? Als nächstes verschwand der eben besprochene Nordannex mit der Apside und wurde ersetzt durch einen rechteckigen, nicht sehr tief fundamentierten neuen Annexbau mit Fliesenboden (Phase 4). Der kurze noch erhaltene Mauerstummel und die anschliessenden Tonplatten wiesen dieselbe Ausrichtung auf wie die heutige Ostmauer der Sakristei. Phase 5 stellt den Umbau der Hauptapsis zum ersten gesicherten Polygonalchor dar, der bis zur Verbreiterung der Kirche um 1694 unverändert bestehen blieb. Schliesslich wurde der schräg zur Kirchenachse ausgerichtete Rechteckbau auf die Ausmasse der heutigen Sakristei verkleinert (Phase 6) - eine Massnahme, die wohl zur besseren Durchfahrt zwischen dem inzwischen entstandenen Speicherkranz und der Kirche diente. Damals dürfte auch das erste Chorfenster in der Nordmauer eingebrochen worden sein.

Diese in Kürze vorgestellten Bauphasen allein im Bereich der nördlichen Annexbauten mögen andeuten, welche neuen Resultate noch aus der Aufarbeitung der verschiedenen neuen Grabungs- und Baubefunde an der Riehener Dorfkirche zu erwarten sind.

 

Anmerkungen 1) L. E. Iselin berichtet über die 1910 gefundenen überreste einer ehemaligen, dem heiligen Michael geweihten Kapelle, die im Volksmund «Engelikapelle» genannt wurde. L. E. Iselin; «Die Pfarrkirche in Riehen», in: Basler Kirchen Bd. 1 (Hrsg. E. A. Stiickelberg), Basel 1917, S. 34-49; beso. S. 39

2) Urkundenbuch der Stadt Basel (BUB), Bd. 1, 1890, S. 16 Nr. 19; S. 29 Nr. 37 3) Verschiedentlich wird die erstmalige Nennung des Martinspatroziniums bereits im Jahre 1157 genannt. Dies beruht jedoch auf einer Verwechslung der Ersterwähnung der Kirche mit der des Patroziniums; BUB, wie Anm. 2, S. 354 f. Nr. 495

4) Die Renovationsarbeiten wurden vom Architekturbüro Gerhard Kaufmann, Riehen, durchgeführt. Die örtliche Bauleitung hatte Peter Teuwen. Aufsicht und Beratung durch die Denkmalpflege unterlagen dem Basler Denkmalpfleger Dr. Alfred Wyss; eidgenössischer Experte war Dr. Georg Carlen.

5) Erläuterungen zur Restaurierung siehe Gespräch mit Denkmalpfleger Dr. Alfred Wyss im vorliegenden RJ, S. 187-193

6) Im Jahre 1942 wurden im Kirchenirmern von Rudolf Laur-Belart mehrere archäologische Bodensondierungen durchgeführt sowie die Nordmauer auf der Innenseite baugeschichtlich untersucht. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen wurden 1943 publiziert: Rudolf Laur-Belart: «Die Kirche von Riehen, Baugeschichte und Untersuchung 1942», in: Zeitschrift für Schweiz. Archäologie und Kunstgeschichte, Band 5, Heft 3, Zürich 1943, S. 129-141

7) Für die baugeschichtlichen Untersuchungen der Denkmalpflege war Bernard Jaggi verantwortlich; Mitarbeiter: Franz Goldschmidt. Die Grabungen durch die Archäologische Bodenforschung wurden von Guido Helmig geleitet; technische Mitarbeiter: Udo Schön sowie Olivier Chouet. Wir danken den verantwortlichen Architekten, Gerhard Kaufmann und Peter Teuwen sowie Werner Mundschin, Bauverwaltung der Evangelisch-reformierten Kirche Basel-Stadt, für die gute Zusammenarbeit und die grosszügige Unterstützung.

8) Ein überblick über die verschiedenen archäologischen Grabungen liegt seit kurzem vor: Peter Thommen: «Die Kirchenburg von Riehen», mit Beiträgen von Kurt Wechsler und Marcel Mundschin. Materialhefte zur Archäologie in Basel Bd. 5, Eigenverlag der Archäologischen Bodenforschung, Basel 1993.

9) Die Datierung beruht auf der Interpretation der Bodenfunde aus der Grabung von Rudolf Laur-Belart (1942). Einzelheiten dazu sind im Materialheft von Peter Thommen ausgeführt; s. Anm. 8. Zudem sprechen die Mauerbefunde sowie der neue Fensterfund (s. Kapitel: Das

Anmerkungen

romanische Fenster) und weitere dieser Bauphase zuzuordnende Elemente für diese Datierung.

10) siehe Anm. 6

11) Der Meierhof wurde 1973/74 von Christine Creder im Auftrag der Basler Denkmalpflege untersucht. Die Dokumentation ist in der Denkmalpflege archiviert. S. auch Helmi Gasser: «Das romanische Haus von Riehen. Der restaurierte Meierhof», in: RJ 1975 S. 10-24

12) Der Umbauplan von Georg Friedrich Meyer, 1687, vermittelt einerseits den überlieferten Bestand vor dem Umbau 1694, andererseits projektierte änderungen, die nicht klar vom Bestehenden zu trennen sind. Eindeutig stellen der schmalere Polygonchor mit nur einer Fensterachse sowie eine punktierte Linie in der Verlängerung der südlichen Chorseite den älteren Kirchengrundriss dar. StABS. Planarchiv F4,151

13) Zur Methode der Dendrochronologie vgl. Bernard Jaggi: «Die Baugeschichte der Landvogtei Riehen», in: RJ 1990, S. 16/17. Die Datierungen wurden vom Dendrolabor Egger in Boll (BE) durchgeführt.

14) Laut Kirchenrechnung 1544. Vgl. Laur 1943, wie Anm. 6,130

15) Der Turmhahn wurde untersucht und restauriert. Auf der Turmspitze sitzt jetzt eine Kopie. Das Original kann heute im Dorfmuseum in Riehen aus der Nähe betrachtet werden. Siehe Bericht über die Restaurierung des Restaurators Walter Pannike im vorliegenden RJ, S. (32)—37

16) Dasselbe Fenster wurde bereits 1942 auf der Innenseite festgestellt und andeutungsweise im Aufnahmeplan der Nordmauer zur Hälfte eingezeichnet. Laur 1943, wie Anm. 6, S. 133 Abb. 2

17) Die wichtige Befundstelle wurde ausgiebig vor Ort mit mehreren Kollegen und Experten der Mittelalterarchäologie und Kunstgeschichte diskutiert. Für die vielen wertvollen Anregungen und Hinweise möchten wir den Herren Hans Rudolf Courvoisier, Guido Helmig, Dr. François Maurer, Michael Raith, Prof. Dr. Hans Rudolf Sennhauser, Peter Thommen sowie Dr. Alfred Wyss bestens danken.

18) Laur 1943, wie Anm. 6, S. 133 Abb. 2

19) H. Reinhardt: «Die Kirche von Riehen, b) Das karolingische Bauwerk», in: ZAK 5,1943, wie Anm. 6, S. 142-148

20) Thommen 1993, wie Anm. 8, S. 57. - Dazu beso. auch Wechsler, ebda S. 17. - BUB wie Anm. 2, S. 354 ff. Nr. 495: Nennung der «curia nostra in Riehain» der Herren von Uesenberg, welche Schenken des Basler Bischofs gewesen waren.

21) BUB wie Anm. 2, S. 104 Nr. 149. - Wechsler bei Thommen 1993, wie Anm. 8, S.17 22) Laur 1943, wie Anm. 6, S. 136 Abb. 6: 13. - Vgl. P. Thommen: «Vorbericht über neue Ausgrabungen bei der Dorfkirche von Riehen anlässlich der Umbauarbeiten der Alten Gemeindekanzlei»; in: BZ 84, 1984, S. 345-361. - Ders., «Die Kirchenburg von Riehen», in: RJ 1988, S. 157-171. Ders., wie Anm. 8, S. 119 ff.

23) Thommen 1984, wie Anm. 22, S. 352 ff. und Abb. 48 f

24) François Maurer: «Die Kirchenburg Riehen - Zur Entwicklung eines Dorfkernes in früh- und hochmittelalterlicher Zeit», in: Provincialia, Festschrift für Rudolf Laur-Belart, Basel-Stuttgart 1968, S. 603-614. (Zweitabdruck desselben Artikels in: RJ 1970, S. 20-31 (ohne Anmerkungen)

25) Thommen 1993, wie Anm. 8, S. 119 ff.: Mauer D; S. 134 Abb. 113; S. 137; S. 140 26) Publikation vorgesehen in: Jahresbericht der Archäologischen Bodenforschung Basel-Stadt 1993 27) Laur 1943, wie Anm. 6, S. 136

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1993

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