Von Nägeln, Steinen und Gästen

Anna Hügi-Seckinger

Die Erinnerungen von Anna Hügi an ihre an Erlebnissen reiche Kindheit im Lindenhof machen den raschen Wandel in unserer Zeit deutlich. Dabei ist doch alles noch gar nicht so lange her...

Meine Eltern zogen 1911 - ich war gerade zwei Jahre alt - vom Baugeschäft Seckinger an der Baselstrasse 19 in den Lindenhof, den sie kurz zuvor erworben hatten. Zum Lindenhof an der Baselstrasse 11 gehörten nicht nur die gleichnamige Wirtschaft, sondern auch Nebengebäude wie die Gartenhalle, die Kegelbahn, verschiedene Schöpfe, der Schweinestall und ein grosses, zweistöckiges Hinterhaus.

Es war schön, im Lindenhof zu wohnen. Meine Brüder und ich konnten auf dem geräumigen Hof Ball und Verstecken spielen. Wenn dann aber beim Einnachten ganze Scharen von Fledermäusen, die tagsüber im Gebälk der Schöpfe hingen, um uns herumflatterten, hatte ich schreckliche Angst.

Wir wohnten im ersten Stock des Hinterhauses, mit dem Blick auf die Langen Erlen, neben der Wohnung des Malermeisters Karl Spiess. Im Untergeschoss war eine ganze Reihe von Handwerksbetrieben angesiedelt, zum Teil in einer grossen, offenen Halle, zum Teil in kleinen, eingebauten Werkstätten. Als kleines Mädchen hielt ich mich mit Vorliebe in diesen Werkstätten auf, schaute den Handwerkern zu und half mit, wo ich durfte.

Besonders gut gefiel es mir in der alten Werkstatt des Nagelschmieds Wilhelm Schwald, der jeden Nagel einzeln von Hand schmiedete. Auf seiner kleinen Esse mit zwei Feuerstellen erhitzte er Eisenstäbe, die er dann mit flinken, genauen Hammerschlägen auf dem Amboss zu Nägeln schlug. Ich durfte ihm zuschauen und dabei fleissig den Blasebalg treten. Ich war ganz fasziniert, mit welcher Schnelligkeit er die Nägel hämmerte, sie von der Eisenstange abbrach, die Nagelköpfe zurechtschlug und sie dann zum Abkühlen ins Wasser warf, dass es nur so zischte. Damals brauchte man ja viele verschiedene Nägel, zum Beispiel zum Beschlagen der Schuhe, und oft erzählte Herr Schwald voll Stolz, dass er auch Nägel für eine Himalaja-Expedition geschmiedet habe. Seine Frau war gross und kräftig; ich sehe sie noch vor mir, wie sie die schweren Nagelpakete zum Tram schleppte, um sie zu den Kunden zu bringen.

Auch für meinen Vater durfte ich oft den Blasebalg treten. Er hatte in seiner Werkstatt eine etwas grössere Esse und einen Amboss, auf welchem er die Werkzeuge «spitzte», die er für seine Bildhauerarbeiten brauchte. Sein eigentlicher Werkplatz aber war im Hof; dort lagerte er die Steinblöcke und bearbeitete sie zu schönen Grabsteinen. Harte Steine wie Marmor oder Granit brachte er in die Steinsäge am Bachtelenweg, wo sie auf die richtigen Masse zugeschnitten wurden. Weichere Steine wie Sand- oder Kalkstein wurden direkt im Hof zurechtgesägt und dann mit Säulen, Kreuzen und viel figürlichem Schmuck verziert, mit Blumen, Blättern, Muscheln und anderem mehr. Alle diese Arbeiten fertigte er von Hand mit dem Meissel an. Besonders schön waren die Inschriften, die er mit feinsten Instrumenten in den Stein meisselte. Beim Vergolden der Schriften, was eine recht heikle und knifflige Arbeit war, durfte ich ihm immer helfen. Vater befreite die Buchstaben sorgfältig mit einem Pinsel vom Staub, bestrich sie mit einer Klebmasse, und dann musste ich schnell das Blattgold darauf legen, welches Vater hierauf andrückte und mit dem Pinsel verrieb. Mit einem kleinen Schälchen musste ich die Goldreste, die hinunterfielen, auffangen, bevor der Wind sie forttragen konnte. Ich war sehr stolz, dass ich Vater bei dieser Arbeit helfen durfte. Er liess mich überhaupt oft an seiner Arbeit Anteil nehmen, zeigte mir schöne Steinblöcke, die er erworben hatte, und nahm mich überallhin mit, auch in die Steinsäge oder zum Aufstellen der Grabsteine. Wenn er im Winter im Chrischonawald am Holzen war, musste ich ihm öfters das Mittagessen bringen - Suppe, Wurst und Brot. Ich sehe mich noch, wie ich als kleines Mädchen in den Wald hinauf stapfte; das war zu der Zeit noch möglich, dass man ein so kleines Kind allein in den Wald gehen lassen konnte. Wir hatten keine Mäntel oder Jacken, aber meine Mutter hatte mir einen dicken Schal gestrickt, dessen Enden man über der Brust kreuzte und im Rücken verknüpfte. Dazu trug ich Handschuhe und eine warme Kappe, und die Füsse steckten in Holzschuhen. Damals schneite es ja noch jeden Winter. War das dann schön, wenn ich mit Vater zusammen im verschneiten Wald am lodernden Feuer die Suppe essen durfte!

Im Hinterhaus des Lindenhofs arbeiteten auch noch andere Handwerker. Da hatte der Wagner Kaspar Obrist seine Werkstatt, in welcher Wagen repariert, Deichseln ausgewechselt und Leitern geflickt wurden. Die Boutique von Malermeister Spiess war ebenfalls dort, aber meistens zog er mit seinen Gehilfen und dem Zweiradkarren zu seinen Kunden. Auch die Dunkelkammer meines Vaters, der als Hobbyfotograf viele Dorfbewohner fotografierte, war in einer Ecke eingerichtet. Hier entwickelte er seine Glasplatten. Auf der andern Seite des Hofes befanden sich die Giesserei Stump und die Mechanische Schlosserei Rudolf Roth, doch da schaute ich meistens nur von weitem zu, wie das flüssige Metall in Formen gegossen wurde. Auf jener Hofseite stand auch das Hochkamin mit dem Storchennest, in dem jedes Jahr ein Storchenpaar brütete. Alle diese Handwerker und ihre Gehilfen bildeten eine Gemeinschaft, und ich fühlte mich wohl unter ihnen, schaute überall zu und wurde von allen akzeptiert. Besonders gut mochte ich die Frau des Malermeisters Spiess. Sie war nämlich im Sommer Badmeisterin in der Riehener Badi und nahm mich sehr oft mit, wenn sie zur Arbeit ging. So kam es, dass ich mit fünf Jahren schon schwimmen konnte. Männer, Buben, Frauen und Mädchen hatten ihre verschiedenen Badezeiten, und bei schönem Wetter herrschte stets ein mächtiges Gedränge im Bad. Manchmal kam ich erst beim Einnachten mit Frau Spiess aus der Badi zurück.

Im Jahre 1917 mussten meine Eltern die Wirtschaft zum Lindenhof, die sie bis anhin verpachtet hatten, wegen Konkurs des Pächters selber übernehmen. Das brachte viele Veränderungen für unsere Familie. Wir wohnten nun an der Baselstrasse, in den Zimmern über der Gaststube. Meine Mutter trug die Hauptlast des Betriebes, war sie doch für die Küche und für die Angestellten verantwortlich. So spielte sich unser Familienleben hauptsächlich in der Küche und zum Teil in der Gaststube ab. Am grossen Tisch, der in der Mitte der Küche stand, assen wir, machten unsere Schulaufgaben und verbrachten häufig auch den Abend dort. Die Wirtschaft war ja sonntags und werktags und bis spät in den Abend offen, und so hatten wir kein Privatleben mehr.

Mit der Übernahme des Gastbetriebes wurden auch wir Kinder fest in die Arbeit eingespannt. Am Morgen und am Abend musste ich mit einem meiner Brüder beim Bauern Hans Fischer Milch holen - manchmal turnten wir dann noch auf der Heubühne herum, bevor wir das Milchkesseli nach Hause brachten. Morgens um sieben Uhr, vor der Schule, mussten wir auch mit dem Leiterwagen das Brot für den ganzen Betrieb beim Beck Löliger holen, und nach der Schule wurden wir meist ins Dorf geschickt, um Kommissionen zu machen, oder in einen der verschiedenen Gärten, um Obst oder Gemüse zu holen. Beeren pflücken, Obst ernten, jäten gehörte zu unseren Aufgaben; ich erinnere mich noch gut, wie mich meine Mutter einmal schickte: «Gang tue de Spinat jäte», und ich dann brav allen Spinat auszog und das Gras stehen liess! Ungern putzte ich jeden Samstag mit meinem jüngsten Bruder die Schuhe der ganzen Familie, und auch das Messerputzen liebten wir nicht besonders. Ganze Berge von Messern, die damals noch nicht rostfrei waren, mussten wir mit einem Korkzapfen, den wir zuerst in Schnaps und dann in Messerputzpulver tauchten, von Rostflecken befreien.

An schönen Sonntagen war in der Gartenwirtschaft viel Betrieb. Im Hof standen zwei grosse Lindenbäume; in ihrem Schatten und in der angrenzenden Gartenhalle fanden sich viele Gäste ein. Da mussten wir alle mithelfen: Meine Brüder arbeiteten am Buffet oder spülten in der Wirtschaft Gläser, und ich musste ab etwa zwölf Jahren servieren. Ich konnte gut und schnell rechnen, was die Gäste erstaunte. Mein Bruder Hans und ich mussten auch oft Kegel aufstellen in unserer Kegelbahn, manchmal bis um elf Uhr nachts. Man sollte Kinder nicht so sehr einspannen zum Arbeiten!

Ich spielte als Kind Konzertzither und hatte ein paar Jahre lang Stunden genommen. Hie und da bat mich mein Vater: «Anneli, spiel uns etwas vor!» Ich machte es nicht gerne, aber unsere Gäste hatten immer grosse Freude an meiner Musik.

Dass neben all dieser Arbeit nicht viel Zeit blieb, um Aufgaben zu machen, ist begreiflich, und trotzdem ging ich immer gerne in die Schule. Schon die Kleinkinderschule gefiel mir. Jeden Morgen marschierte ich dem Immenbächlein entlang, beim Taubstummen-Garten vorbei, wo der Gärtner August mich freundlich begrüsste, und zum Kindergarten an der Schmiedgasse zu Schwester Anna. Wir sangen viel, lernten Verslein, spielten im Garten und machten Handarbeiten. Ich strickte schon damals sehr gerne, und einmal durfte ich gar aufs «Flyssbänggli» sitzen, weil ich - wie Schwester Anna laut verkündete zehn Nadeln gestrickt hatte.

Von der Primarschule im Erlensträsschen ist mir vor allem der unfreundliche Schulhausabwart in Erinnerung geblieben, der immer schimpfte, wenn wir in der Pause herumrannten. Auch im Schulzimmer mussten wir ganz ruhig sitzen, sonst gab es Tatzen. Die beste Erinnerung habe ich an die Sekundarschulzeit im Schulhaus Burgstrasse. Wir hatten eine wunderbare Lehrerin, Fräulein Maria Kägi, die uns viel mitgab auf den Lebensweg. Sie verlangte zwar viel von uns, hatte aber auch grosses Verständnis für ihre Schülerinnen und Schüler. Es passierte häufig, dass ich am Montagmorgen in der Schule einschlief; dann sagte sie zu den andern Kindern: «Jetz mache mir ganz e lysi Stund, dass 's Anneli nit verwacht; es het's gescht wider sträng gha!»

In jenen Jahren wurde in der Schule bereits Wert auf die Gesundheit der Schülerinnen und Schüler gelegt. Als wir etwa dreizehn oder vierzehn Jahre alt waren, kam der Schularzt in die Schule und untersuchte uns alle, ob wir einen Kropf hätten. Riehen war ja bekannt als «Chropfheim», weil viele Einwohner infolge des Jodmangels unseres Dorfwassers unter einem Kropf litten. Auch in unserer Klasse wiesen viele Kinder, besonders Mädchen, Kröpfe auf. Wir wurden in Gruppen eingeteilt, je nach Grösse der Verwachsung, zum Teil fotografiert, und erhielten dann regelmässig durch den Lehrer Jodtabletten. Bei vielen Mitschülerinnen verschwand der Kropf später.

Auch für unsere Reinlichkeit sorgte die Schule. Einmal im Monat durften wir im Burgstrasse-Schulhaus duschen.

Wir mussten uns ein Schürzchen umbinden, der Abwart verteilte an alle flüssige Seife, und dann mussten wir uns schrubben und fegen und unter der Dusche waschen. Unsere Mutter badete uns zwar auch zu Hause in den grossen Waschzubern, in welchen sie die Wäsche für uns und das ganze Personal wusch, aber viele Familien hatten kein Waschhaus und benützten darum gerne das öffentliche Wannen- und Brausebad im Burgstrasse-Schulhaus.

Schön waren natürlich auch die Schulausflüge, die in den ersten Klassen in die Langen Erlen oder den Zolli führten, später auf den Blauen, die Hohe Möhr und im letzten Schuljahr gar auf die Rigi - einen ganzen Tag unterwegs sein, das war ein Erlebnis. Wir kamen ja als Kinder kaum je von Riehen fort, und in unserer Familie gab es nicht einmal Sonntagsspaziergänge, weil die Wirtschaft immer offen war. So waren die Schulreisen dann wirkliche Höhepunkte.

Als ich fünfzehneinhalb Jahre alt war, ging meine Kinderzeit abrupt zu Ende: Mein Vater erkrankte schwer und starb kurz vor Weihnachten 1925, im Alter von nur fünfzig Jahren. Das war schlimm, ich hätte ihn noch so sehr gebraucht. Wir verliessen im darauffolgenden Jahr den Lindenhof. Wenn ich aber an meine Kinderzeit und an meinen Vater zurückdenke, so sehe ich stets den Lindenhof vor mir, wo ich eine zwar arbeitsreiche, aber geborgene Kindheit erlebte.

Personen

(soweit nicht schon im RRJ oder im RJ 1986 ff. vorgestellt): Kaspar Obrist-Kaiser, Wagnermeister (1862-1931) Johann Rudolf Roth-Trächslin, Schlossermeister (1866-1956) Wilhelm Schwald-Weissenhorner, Nagelschmied (1890-1932) Emilie Spiess-Lustenberger, Badmeisterin (1874-1958) Karl Spiess-Lusterberger, Malermeister (1877-1958) Edmund Stump-Keller, Giesser (1880-1934)

 

Anmerkungen

Zusammengestellt auf Grund von Tonbandaufnahmen und mündlichen Erzählungen von Anna Hiigi-Seckinger durch Lukrezia Seiler-Spiess

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1997

zum Jahrbuch 1997