Wir Lörrachersträssler

Heini Neukom

Ich bin ein Kind der Lörracherstrasse und wünschte, dort 150 Jahre früher gelebt zu haben. Kein Haus weit und breit, keinerlei hektische Betriebsamkeit. Vom Westen das Rauschen des wilden Wiesenflusses, aus den feuchten Auenwäldern das Lied der Nachtigall. Die Stille der friedlichen Natureinsamkeit gelegentlich unterbrochen von Pferdegetrampel und Karrengeratter auf holpriger Landstrasse. Was meinst Du, lieber Leser, wem wir da hätten begegnen können? - Erraten: Johann Peter Hebels ätti auf dem Heimweg mit seinem Fuhrwerk durch die alte Landstrasse von Basel ins Wiesental. Wir belauschten seine tiefschürfenden Betrachtungen über die Vergänglichkeit angesichts des zerfallenen Röttlerschlosses und des aufkommenden Sternenhimmels. Ums Jahr 2000 stehe das eigene Haus nicht mehr und «es Schlacht emol e Stund, goht Basel au ins Grab, und streckt no do und dort e Glied zuem Boden us». Der alte Wegweiser, der wohl bei der Mühle stand (Weyl/Riechen/Intzligen/Stetten), war vielleicht Anstoss für sein berühmtes Gedicht: «Und wenn de amme Chrüzweg stohsch, und nümme weisch, wo's ane goht» mit dem vielsagenden Schlussvers: «Und 's sin no Sachen ehne dra».

Kehren wir zurück in die Wirklichkeit! In altehrwürdigen Mauern aufzuwachsen, ist keine Kunst. Alles ist schon da. Aus Niemandsland wohnliche Ansiedlungen erstehen zu lassen, ist schon schwieriger. Architekten und Anwohner müssen etwas «leisten». Es braucht Geduld und dauert Generationen, bis so etwas wie ein Quartiergeist entstehen kann.

Die Zollübergangsstelle, der Dyych mit der Pappelallee und die Wiesentalbahnlinie bilden den äusseren Rahmen um unser Quartier, das wir Lörracherstrasse (Volksmund Lörtsgi) nennen, zu welchem wir aber auch Grienbodenweg, Käppeligasse, Friedhofweg und Haselrain (früher Lörracherweg) und neuerdings Brünnlirain, Stellimattweg, Hinter der Mühle und Seidenmannweg zählen. Diese drei Merkmale prägen, zusammen mit der mittendurch führenden, breiten Strasse mit dem grünen Basler Trämli, das Leben draussen vor dem Dorf, den Anwohnern oft gar nicht bewusst.

Als Folge des schon zu meinen Zeiten, das heisst in den dreissiger Jahren, lärmigen und gefährlichen Strassenund Tramverkehrs, spielte sich das Familienleben in den Höfen, Gärten und auf den Terrassen hinter den Häuserzeilen ab. In der Kriegszeit von 1939 bis 1945 änderte das. Die Mütter holten sich ein Kissen ans Fensterbrett und schauten mit Wonne den Kindern auf der leeren Strasse zu, wie sie sich bei Ball- und Singspielen, mit Schabernack und Kunststückchen feierabende- und sonntagelang unterhielten. Ich habe aus jener Zeit noch zwei Narben aufzuzeigen, zugezogen bei übermütiger Veloakrobatik im Konflikt mit heimtückischen Tramschienen. Durch offene Fenster hörten wir oft Hitlers Radioreden mit dem frenetischen Gebrüll nach jedem Satz. Es gab Nazi-Sympathisanten unter den vielen ausländischen Anwohnern, die uns zu beeinflussen suchten. Sie erreichten das Gegenteil. Wenn am hellichten Tag in Steigers Restaurant «Stab» die Rolläden heruntergelassen wurden, wusste jedermann, dass die verräterische Fünfte Kolonne (Nazi-Anhänger) eine Versammlung abhielt. Diese Leute verschwanden später freiwillig oder unfreiwillig Richtung Norden.

Im Quartier waren Brot und Milch zu haben, es gab eine Metzgerei, zwei Wirtschaften und eine Anzahl Lebensmittel- und Tabakläden und Kioske, eigentlich für Grenzgänger gedacht. Der Schuhmacher, der Coiffeur, der Holz- und Kohlenhändler waren da, sogar ein Sarginstitut (Stolz), aber es fehlten Schule und Kirche. Offenbar bestand wenig Verlangen nach Bildung und Seelennahrung. Eine grosse Häfelischule (Kindergarten) mit dem beliebten Fräulein Schröder befand sich im Haus Lüdin, wo auch der mongoloide Ernstli wohnte, der stundenlang am vergitterten Gartenhag wartete, bis ich mit meinem Instrument erschien und für ihn Musik machte. Alfred Stump, der in unserem Haus wohnte, gründete eine CVJM-Abteilung, die in der Arche-Noah-Hütte am Friedhofweg ein Zuhause hatte.

Zugegeben, wir waren eine sonderliche Gesellschaft da draussen vor den Toren des angesehenen, frommen Riehener Dorfes. In der Dorfschule am Erlensträsschen waren die Eltern besorgt, dass ihr Zögling nicht neben einen Lörrachersträssler zu sitzen kam. Die gröberen Redensarten, das ungehobelte Benehmen und die oft mangelhafte Sauberkeit waren der Grund. Wir mussten alle Flöhe, Läuse und Wanzen haben! Der Vogelbach-Bauer war unter uns Kindern - darf ich's sagen? - der «Bäggfurzi». Ent schuldigung. Mit seinem schwarzen Schnurrbart, dem unheimlichen Blick, ohne je ein freundliches Wort zu sagen, und mit dem ihm stets anhaftenden Stallgeruch, verleitete er uns Buben, ihm den übernahmen nachzurufen. Aber oha, das konnte gefährlich werden! Ich spüre noch die schmerzhafte Schwiele seines Geiselzwicks.

Wie die Sprache, so waren auch die Sitten rauher. Man bezog wochenlang Milch und «vergass» sie zu bezahlen. Eier fehlten in den Hühnerhöfen und vor den Festtagen ganze Hühner, ohne dass die geringste Spur von Füchsen ausgemacht werden konnte. Lebende Katzen und Chüngel verschwanden spurlos, weil es unter uns Leute gab, die den Nebenverdienst mit Versuchstieren einer geregelten Arbeit vorzogen.

Wenden wir uns freundlicheren Dingen zu! Den Geranien am Fenster, den Rosen im Hinterhof, den fruchtbaren Gemüsegärten mit den zartrosa blühenden Pfirsichbäumchen, dem herrlichen Weitblick über die Felder, dem Grüngürtel im nahen Erholungsgebiet. Dinge, die zuweilen durch den zermürbenden Strassenverkehr und durch den undörflichen Vorstadt-Mietskasernencharakter überdeckt werden. Aber sie gehören zur Gesamtheit der wunderschönen Riehener Landschaft, die von uneinsichtigen Menschen immer wieder gefährdet wird (Zollfreistrasse, Stettenfeld), die aber glücklicherweise auch der Historiker entdeckt und am Schluss des vorangehenden Aufsatzes beschrieben hat.

Wie schön war's doch im Sommer am Dyych! Er war offen zugänglich und hatte damals im oberen Teil ganz natürliche, ungefasste Uferböschungen. Wir liebten diesen alten, grenzüberschreitenden Mühlekanal (offizieller Name: Riehener Mühleteich) besonders bei hohem Wasserstand und starker Strömung. Er diente als Antrieb der alten Riehener Mühle und zur Bewässerung der Matten. Trotz Blutsaugern (Blutegel) und Scherben im Bachbett sprangen wir ins kühle Nass und liessen uns hinuntertreiben. Die überall vorhandenen Stellfallen verführten uns zum streng verbotenen Wasserauslassen in die Seitengrä ben, bis der Bammert uns erwischte und wir uns dann kurzerhand aufs Kirschenstibitzen verlegten. Man glaubt kaum, was alles an Unrat den Dyych heruntergeschwommen kam! Es schien, als würden unsere deutschen Nachbarn einfach alles, was sie nicht mehr brauchten, ins Wasser werfen. Die rationellste Abfallbeseitigung, zollfrei über die Grenze! Einmal kam gar ein lebender Hund dahergeschwommen, der mit den Wellen kämpfte und zu schwach war zum Aussteigen. Ich rannte ihm nach und fischte ihn beim Waschhäuschen an der Weilstrasse heraus, brachte ihn - ein schöner Schäfer mit traurigen Augen - zum Polizeiposten und hatte das stolze Gefühl, ein grosser Lebensretter zu sein. Später erfuhr ich, dass er auch «Abfall» war und hätte ersäuft werden sollen.

Langweilig war's nie in unserem Grenzquartier, wenn man die Augen offenhielt. Es gäbe noch viel zu erzählen. Von Begebenheiten mit Sonderlingen, vom Deserteur aus der Fremdenlegion bis zum pensionierten Posthalter, von den Bretterbuden hinterm Bahndamm, vom Spielplatz auf dem Trassee der während des Krieges stillgelegten Wiesentalbahnlinie, von Schmugglern und tragischen Ereignissen am Zollübergang und von den Schicksalen lieber Nachbarn, die nicht mehr unter uns weilen.

Kürzlich bin ich nach fünfzig Jahren (von der Jahrbuchredaktion zusammengeführt) mit Walter Meyerhofer zusammengetroffen. Er wohnte im Haus Nr. 107. Mein Elternhaus war die Nr. 113. Ich bin aus beruflichen Gründen im Jahre 1952 weggezogen. Wir zwei sind stundenlang beisammen gesessen, haben alte Erlebnisse aufgefrischt und würden heute noch dort sitzen, wenn mich das Abfassen dieser Zeilen nicht ans Schreibpult in meinem Haus am Zürichsee gerufen hätte...

Anmerkungen

Vom gleichen Autor erschien im Jahrbuch 1977 die Erzählung «Der Gross Elmer» unter dem Pseudonym Otto Laurin (RJ 1977, S. 34-44).

Für das Dorfmuseum Riehen erzählte Heini Neukom unter dem Titel «Uss mynere Jugendzyt - z'Rieche im Zweite Wältchrieg» Erinnerungen an die Lörracherstrasse. Der Text kann im Museum an der Hörstelle 1 abgehört werden und ist erhältlich auf der CD «Dorf- und Rebbaumuseum im Wettsteinhaus Riehen» in der Boutique des Museums.

 

Personen

(soweit nicht schon in der GKR, im RRJ oder im RJ 1986 ff. vorgestellt)

Ernst Lüdin (1920-1973)

Walter Meyerhofer (*1929), Kaufmann

Heinrich Neukom (1899-1967), Milchhändler

Martin Steiger (1883-1947), Wirt zum Stab

Johann Alfred Vogelbach (1989-1963), Landwirt

Emma von Schröder (1885-1965), Kindergärtnerin

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1993

zum Jahrbuch 1993