Zweihundert Jahre gelebte Demokratie Die Jahre nach dem Krieg

Michael Raith

Nachdem im Jahrbuch 1999 das politische Leben von Riehen zwischen 1799 und 1945 dargestellt worden ist, erfolgt nun die Fortsetzung bis zur Gegenwart.

Zweihundert Jahre gelebte Demokratie: Die Jahre nach dem Krieg während des Zweiten Weltkriegs stand die Kommunalpolitik im Schatten wichtigerer Ereignisse. Auch viele andere Aktivitäten mussten ruhen. Nach dem Ende der Feindseligkeiten zeigte sich Nachholbedarf auf verschiedensten Ebenen. In Riehen brach eine ungeheure Bautätigkeit aus. Ihr folgte eine enorme Bevölkerungszunahme: Sie erreichte ihren Höhepunkt mit 21429 Einwohnern im November 1974.

Seither ist die Entwicklung in ruhigere Bahnen geraten, aufs Ganze gesehen blieb die Zahl konstant, phasenweise bildete sie sich sogar zurück. ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg sorgten auch nach dem Zweiten Weltkrieg die Zuzüge für weitreichende politische Veränderungen. Sie waren wohl nicht zufällig gepaart mit zähem Beharren, wie es etwa in der 25-jährigen Amtsdauer von Gemeindepräsident Wolfgang Wenk zum Ausdruck kam. Seine erste Bestätigungswahl 1948 verlief ruhig, was nach den Kämpfen von 1945 doch verwundert. Zum letzten Mal trat die alle nichtsozialistischen Gruppen umfassende «Bürgerliche Vereinigung» (BV) an mit Radikalen (heute FDP), Liberalen (LDP), Evangelischen (heute VEW), Katholiken (heute CVP), bürgerlichen Parteilosen und zwei weiteren Verbindungen: Die eine, schon 1923 im Schosse des Landwirtschaftlichen Vereins gegründet, hiess Bauernund Gewerbepartei. Sie stand in Verbindung mit der Schweizerischen Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB, seit 1971 Schweizerische Volkspartei SVP). Die andere nannte sich Dorfgruppe und hatte als innerbürgerliche Opposition anlässlich der Gemeinderatsersatzwahl 1936 und der Gemeindepräsidentenwahl 1945 erfolgreich Wolfgang Wenk als Sprengkandidaten gegen zugezogene Bewerber durchgesetzt. Aber erst 1948 konstituierte sie sich offiziell als Dorfpartei. Als Neuigkeit warb die BV mit einem Porträtfotografien der Kandidaten für das Gemeindeparlament zeigenden Wahlprospekt. Die konkurrierenden Sozialdemokraten (SP) reagierten prompt: «[Es] ist ein Unikum, dass eine Partei alle ihre Kandidaten in Photographien (und zum Teil was für miserable Bilder) den Wählern vorstellt. Das soll wohl zunächst einmal den fehlenden Kontakt zwischen den Herrn Direktoren, Advokaten, Unternehmern und Betriebsleitern aller Art mit dem einfachen Volk herstellen? Den nötigen Pulver hat man ja. Dann ist dieser <Schlager> - oder Schlag ins Wasser? - sicher dazu bestimmt, vom dürftigen Inhalt des Wahlaufrufes abzulenken.»

Es war kein Schlag ins Wasser: Die BV gewann drei Sitze dazu, einen zulasten der SP, zwei auf Kosten der kommunistischen Partei der Arbeit (PdA). Auch innerhalb der BV kam es zu grossen Verschiebungen, vor allem die konfessionellen Gruppen gewannen, die 1945 nicht vertretenen Katholiken zwei und die 1945 auf ein einziges Mandat gekommene VEW drei Mandate. Auch die FDP gehörte mit einem Mandatsgewinn zu den Siegern. Diese drei Gruppen scherten dann als erste aus der BV aus: Sie versprachen sich aus den verschiedensten Gründen von eigenen Listen mehr. Hauptärgernis soll das unterschiedliche Panaschierverhalten der einzelnen Gruppen gebildet haben.

Die Zäsur von 1951 Für die Gemeindewahlen von 1951 fielen eine Menge von änderungen an. Die Sitzzahl des Weiteren Gemeinderates, des Parlamentes und heutigen Einwohnerrates also, wurde um zehn, von dreissig auf vierzig, und diejenige der Exekutive, des Gemeinderates, um zwei, von fünf auf sieben - den Präsidenten inklusive - erhöht. 1954 erfuhr die Amtsdauer eine Verlängerung um ein Jahr, von drei auf vier Jahre. Diese Massnahmen entsprachen teilweise analogem Vorgehen auf den Stufen Bund und Kanton, teilweise stellten sie Folge des Bevölkerungswachstums dar. Die Nachbargemeinde Bettingen erhielt neu fünf statt drei Gemeinderäte.

Klar, auch in diesem Wahlkampf wurde über Sachthemen wie etwa Steuerfragen oder sogar schon Lärmschutz diskutiert, für einmal aber übertönte der Zorn der Bürgerlichen über den Alleingang der Katholiken und Evangelischen die übliche Abgrenzung zwischen links und rechts. Heraus kam ein nuancenreiches Resultat. CVP - beziehungsweise damals noch bis 1972 Katholische und Christlichsoziale Volkspartei - und VEW errangen bei der Proporzwahl des Parlamentes grosse Erfolge, die erste über zehn Stimmenprozente und vier Sitze, die zweite knapp 19 vom Hundert und sieben Mandate, während die BV 18, die Sozialdemokraten neun und die PdA zwei Vertreter entsenden konnten.

Wolfgang Wenk hatte keinen Gegenkandidaten. Für die sechs anderen Sitze im Gemeinderat stellten die Parteien zunächst acht Kandidaten auf: Im ersten Wahlgang überschritten der Bauer Jakob Sulzer (1888-1960, von 1924 bis zu seinem Tod Gemeinderat) und der FDP-Bewerber Gottlieb Prack (1901-1975, Beamter, Gemeinderat von 1945 bis 1966) sowie der als Landesringvertreter auf dem BV-Wahlvorschlag portierte Lehrer und spätere Rektor Hans Renk (1903-1966, Gemeinderat von 1951 bis 1962) das absolute Mehr. Die beiden Sozialdemokraten blieben wie üblich darunter, schafften es aber, wie bis 1966 ebenfalls üblich, im zweiten Wahlgang. Es handelte sich um den Advokaten Karl Senn (1905-1994, Gemeinderat von 1945 bis 1958) und den Beamten Albert Abt (1909-1988, Gemeinderat von 1951 bis 1970). Ein dritter Sozialdemokrat, der Amtsvormund Jules Ammann (1914-1993), wurde für die Stichwahl nicht mehr portiert und gelangte 1958 in den Gemeinderat. Dafür stellte die VEW erst für den zweiten Durchgang mit dem Kaufmann Otto Schäublin (1913-1993) als Premiere eine eigene Nomination vor.

Der Kampf um die verbliebenen drei Sitze tobte heftig. Neben Senn und Abt kam Schäublin in die Dorfregierung. BV-Kandidat Paul Muchenberger (1902-1977), beim ersten Mal Bestplatzierter unter den Nichtgewählten, erzielte den letzten Rang, und der Katholik und Sägewerkbesitzer Emil Morandini (1906-1997, Gemeinderat seit 1945) wurde abgewählt: Seine Partei hatte zwar Wolfgang Wenk unterstützt, was aber vom bürgerlichen Elektorat offensichtlich nicht honoriert wurde. Die Vertreibung des ersten CVP-Vertreters aus der Exekutive verbitterte den katholischen Bevölkerungsteil. Erst 1962 versuchte es die CVP - allerdings erfolglos - wieder. Von 1966 bis 1994 gehörte dann allerdings ein Gemeinderatsmandat einem Mitglied dieser Partei. Ihre Sologänge bei der Exekutivbestellung erwiesen sich als für einen Gewinn zu schwach. Sukkurs der übrigen Bürgerlichen durch Aufnahme in den gemeinsamen Wahlzettel brachte zwar im ersten Wahlgang, wenn auch keinen Erfolg, so doch hohe Stimmenzahlen. Im zweiten Wahlgang, wenn diese Bürgerlichen ihre «Schäfchen im Trockenen» hatten, gingen sie des noch nicht gewählten Katholiken wegen nicht mehr eigens an die Urne, und er hatte das Nachsehen.

Gezeichnete Köpfe und Geld fürs Rote Kreuz

Die kommunalen Abstimmungen und Wahlen müssen zwar im Zusammenhang mit allen anderen gesehen werden, besitzen jedoch ihren eigenen Stellenwert. Auch auf Gemeindeebene kam der politischen Propaganda je länger, desto mehr Bedeutung zu. So konnten sich selbst die Sozialdemokraten den Ansprüchen der Moderne nicht versagen und brachten 1954 in ihrer Werbung Kandidatenporträts - trotz ihrer Kritik von 1948 an den bürgerlichen Bildern. Aber das waren ja Fotografien gewesen. Und um sich davon doch noch zu unterscheiden, verwendeten sie - Zeichnungen! Anlässlich dieser Wahl trat nun auch die FDP mit einer eigenen Liste an, erzielte aber damit vorerst nicht mehr Mandate als seinerzeit auf der BV-Liste. Die VEW gewann ein Mandat und bildete neu eine Achterfraktion, sie hatte damit ihren Zenit in der Vorfrauenstimmrechtsära erreicht.

Bei den Wahlen von 1958 trat nun auch der Landesring der Unabhängigen, der früher ebenfalls auf der BV-Liste kandidiert hatte, mit einem eigenen Wahlvorschlag auf. Hans Renk gehörte allerdings nicht mehr zu ihm, sondern zog es, nach Sondierungen bei anderen Gruppen, vor, bürgerlicher Parteiloser zu bleiben. Die Bürgerliche Vereinigung Riehen löste sich 1953 auf, ihre Listen an Gemeindewahlen gab es aber noch bis 1962. Zuletzt wurden sie noch von LDP, bürgerlichen Parteilosen und der Bürgerlichen Dorfpartei - 1951 entstanden durch die Fusion der Dorfpartei mit der Bauern- und Gewerbepartei - getragen. Die Dorfpartei gab sich 1965 den Namen Bürgerliche Mittelstands- und Gewerbepartei (BMG), diese ging 1972 in der LDP auf. Erst seit 1966 entsprechen die Wahllisten für die Riehener Parlamentswahlen denjenigen der städtischen Grossratswahlkreise, während in Bettingen bis heute die Uhren noch anders gehen.

Die parteipolitische Zusammensetzung des Gemeinderates um 1960 zeigte folgendes Bild: vier Bürgerliche, und zwar einer von der FDP, zwei von der LDP und einer von der BMG, dazu ein Vertreter der VEW und zwei der Sozialdemokraten. Erst 1966 kam es zu einem Wechsel. Die VEW erhob Anspruch auf einen zweiten Sitz, die CVP wollte wieder in die Regierung einziehen. Abgesehen vom bekanntlich unbestrittenen Präsidenten bewarben sich also sieben Kandidaten um sechs Sitze. Im ersten Wahlgang gelang lediglich Max Ott (geboren 1919, Rektor, Gemeinderat von 1966 bis 1973) ein Durchbruch. Umso heftiger gings dann vor dem zweiten zu. Gemeindepräsident Wenk schlug den CVP-Kandidaten Ernst Feigenwinter (1916-1994, Polizeibeamter, Gemeinderat von 1966 bis 1974) zur Wahl vor, dies unter ausdrücklicher Ablehnung des von der VEW neuportierten Gerhard Kaufmann (geboren 1931, Architekt, Gemeinderat seit 1966, Gemeindepräsident von 1970 bis 1998). Wenk schrieb in einem offenen Brief, der unter Benutzung der Adressiermaschine der Gemeindeverwaltung allen Wahlberechtigten zugesandt wurde, es gehe ihm um die Erhaltung des «politischein] Friedens, den wir seit 20 Jahren oder besser gesagt, seit meiner Wahl zum Gemeindepräsidenten im Jahre 1945, gehabt haben». Die Reaktionen Hessen nicht auf sich warten: Wenk hielt man sein Verhalten anlässlich dieser ersten Wahl (siehe RJ 1999, S. 33-36) wieder einmal vor, prompt wurde Kaufmann gewählt, Feigenwinter allerdings auch! über die Klinge springen musste der Sozialdemokrat Jules Ammann. Dazu hatte neben innerparteilichen Streitigkeiten auch der Verzicht der Sozialdemokraten auf einen eigentlichen Wahlkampf beigetragen: Die Wähler erhielten lediglich ein als Telegramm gestaltetes Flugblatt, auf dem ihnen mitgeteilt wurde: «verzichten auf Wahlpropaganda + stop + das hiefuer bereitgestellte geld dem roten kreuz zu gunsten beschaeftigungs-therapie fuer cerebral geschaedigte kinder ueberwiesen.» Neben dem Text war eine Einzahlungsquittung über 2200 Franken abgebildet.

Dank Frauenstimmrecht alles anders

Auf kommunaler Ebene wählten 1970 die Frauen erstmals mit: Vier von ihnen gelangten in den Weiteren Gemeinderat. Elisabeth Arnold (geboren 1921) präsidierte ihn 1980/82 als Erste und hat bis heute zwei Nachfolgerinnen erhalten. In den Gemeinderat zog 1982 Madeleine von Wolff (geboren 1928, Gemeinderätin bis 1994) ein.

Stärker wirkte sich das aktive Frauenwahlrecht aus. So wanderten drei Parlamentssitze von der FDP zur VEW. Später glichen sich die Verhältnisse wieder aus. Die Wahlbeteiligungen bildeten sich zurück und erreichten 1986 mit 38 Prozent ihren Tiefststand. Seither ging es dank Briefwahl wieder aufwärts: Heute nehmen gut die Hälfte der Berechtigten teil. Im Verlaufe der Jahre verschwanden einige Parteien. Die PdA trat 1958 nicht mehr an, war dann aber noch einmal von 1974 bis 1982 im Rat präsent. Der Landesring erzielte letztmals 1986 ein Mandat. Die Progressiven Organisationen (POB) beteiligten sich während zwanzig Jahren - von 1974 bis 1994 - am Ratsgeschehen. Unter wechselnden Parteibezeichnungen (Nationale Aktion, Schweizer Demokraten, Starkes Basel) gehörten von 1974 bis 1978 und ab 1998 Einzelne dem Parlament an. Die Demokratisch-Soziale Partei (DSP) löste sich 1982 aus der Sozialdemokratie und bildet seit 1986 eine Fraktion des im gleichen Jahr zum Einwohnerrat umbenannten ehemaligen Weiteren Gemeinderats. Als jüngste Gruppierung zogen 1990 die Grünen ins Parlament ein.

Gemeindepräsident Kaufmann wurde nur ein einziges Mal durch einen Gegenkandidaten bestritten (1990). Die LDP verlor einen ihrer beiden Gemeinderatssitze 1978 an die SP, gewann diesen 1994 wieder zurück; die SP verlor ihren zweiten Sitz 1982 an die FDP, gewann ihn 1994 wieder zurück; die FDP verlor damals einen ihrer beiden Sitze. Damit sind wir in der Gegenwart angelangt, deren Kommentierung Späteren vorbehalten bleiben soll.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2000

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