Die Gemeindekrankenpflege in Riehen und Bettingen

Fritz Hoch

Schon im zweiten Jahr seines Bestehens erhielt das Diakonissenhaus Riehen vom Frauenkrankenpflegeverein Schaffhausen eine Bitte, ob es ihm eine seiner jungen Diakonissen als Gemeindekrankenschwester zur Pflege der in den Häusern liegenden Kranken senden könnte. Eine junge Schaffhauserin hatte sich in Kaiserswerth am Rhein bei Pfarrer Fliedner in der Krankenpflege ausbilden lassen, war dann zur Pflege ihrer eigenen Eltern beurlaubt worden, hatte neben den eigenen Eltern im Auftrag des Krankenpflegevereins auch andere Kranke betreut, war aber nach dem Tod der Eltern nach Kaiserswerth zurückberufen worden. Die dadurch entstandene fühlbare Lücke wollte der Verein wieder ausfüllen durch eine Riehener Diakonisse. Die Leitung des Mutterhauses antwortete, dass die jungen Schwestern noch zu wenig ausgebildet seien, als dass sie eine so verantwortungsvolle Aufgabe übernehmen könnten. Als dann im November 1854 die Bitte aus Schaffhausen dringlich wiederholt wurde, wagte es das Mutterhaus, eine seiner jungen Schwestern an diesen neuen «Posten» auszusenden. Unter der erfahrenen und liebevollen Anleitung der Damen des Schaffhauser Krankenpflegevereins lebte sie sich gut in die neue Aufgabe ein, so dass sie auch nach Ablauf der halbjährigen «Probezeit» bleiben durfte. Bald folgten die Kirchgemeinden Basels nach: 1860 erhielt die Theodorsgemeinde, die damals ganz Kleinbasel umfasste, ihre erste Gemeindekrankenschwester, 1861 folgte die Petersgemeinde, 1862 die Münstergemeinde und 1865 schliesslich die Leonhardsgemeinde.


Und Riehen, der Standort des Diakonissenhauses? Das war damals noch ein kleines Dorf, das einer Gemeindeschwester kaum genügend Beschäftigung geboten hätte. Das Komitee aber gab dem Spitalarzt, Dr. Martin Burckhardt-His, der ja zugleich auch Dorfarzt war, die Vollmacht, in Fällen, da er es für nötig erachtete, im Einverständnis mit der Oberschwester passende Schwestern in die Häuser der Gemeinde zu senden, in denen Pflege kranker Glieder, vor allem der Hausmütter, nötig war. Schon bald nach der Gründung des Flauses (im November 1852) mussten die jungen Schwestern regelmässig bei einem schwerkranken Mädchen in der Taubstummenanstalt wachen. Im September 1853 wünschte Dr. Burckhardt dringend eine Schwester für ein nahe der Riehener Grenze liegendes Haus in Grenzach, in dem Vater und Mutter samt einem Kinde schwer an Typhus erkrankt waren. Die Pflege bei Tag und Nacht war so streng, dass die jungen Schwestern sich immer wieder ablösen mussten. Wie wenig man sich damals noch vor der Ansteckung fürchtete, zeigt die Tatsache, dass eine der Diakonissen direkt aus der Typhuspflege an das Wochenbett einer Basler Pfarrfrau beordert wurde! Zum Glück ohne schlimme Folgen! Solche Typhusepidemien gab's damals auch immer wieder in Riehen, und wenn immer möglich stellte das Mutterhaus eine seiner Schwestern zur Pflege zur Verfügung. Im Januar 1854 berichtet Oberschwester Trinette in ihrem Tagebuch: «Einen besonders schweren Tag hatten wir durch eine schwere Geburt in der Nachbarschaft, zu welcher Schwester Mina und ich vom Arzt gerufen wurden. Die Mutter blieb am Leben und erholt sich schnell; möge auch ihre Seele genesen.» Dazu ist zu bemerken, dass die beiden Schwestern keinerlei Ausbildung als Hebammen hatten. Bald darauf heisst es einmal im Tagebuch: «Im Dorf haben wir bei zwei Typhuskranken Blutegel zu setzen und ein wenig zu pflegen». So bestätigt sich, was im Protokoll des Komitees 1855 festgestellt wird: «Die Armen- und Krankenpflege in den umliegenden Dörfern ist in Gang gekommen.» Es war also dem jungen Mutterhaus ein Anliegen, auch in seiner nächsten Umgebung den Kranken mit seinen Schwestern zu dienen. Honorar wurde dafür kaum verlangt. Was an freiwilligen Gaben den Schwestern geschenkt wurde, gehörte dem Mutterhaus.


Als dann etwa seit 1860 Diakonissen auch den Dienst an der Riehener Kleinkinderschule übernahmen, wurden die dort Dienenden beauftragt, morgens vor Beginn des Unterrichts und abends nach Schluss der Schule sich der Kranken im Dorfe anzunehmen. Durch die Kinder erfuhren sie ja am besten, wo etwa eine Mutter das Bett hüten musste oder wo andere Kinder krank daniederlagen. Wir wissen von verschiedenen Kleinkinderschulschwestern, dass sie diesen zusätzlichen Dienst an den Kranken des Dorfes mit Freuden taten und sich dabei das Vertrauen und die Liebe mancher Familie erwarben. Auch eine in der Kleinkinderschule von Bettingen tätige Schwester bekennt einmal in einem Rückblick auf ihr Leben, dass ihr der Dienst an den Kranken und Alten im Dörflein besonders lieb gewesen sei. — Als aber in den siebziger Jahren Pfarrer Th. Fliedner Hausgeistlicher der Diakonissenanstalt wurde, beanstandete er — mit vollem Recht! — dass den Kinderschulschwestern auch Nachtwachen zugemutet wurden: wenn sie tagsüber eine grosse, lebhafte Kinderschar zu beaufsichtigen, zu unterhalten und zu beschäftigen hätten, würden sie dringend ungestörte Nachtruhe nötig haben. Er beantragte denn auch im Komitee im Dezember 1877, es solle eine Diakonisse als Gemeindeschwester für Riehen-Bettingen bestimmt werden. Das Komitee beschloss: «Es soll ganz in der Stille damit begonnen werden und vorläufig keine besondere Form dafür ausgemacht werden». Es liegen nur einige wenige Anzeichen vor, dass und wie dieser Beschluss ausgeführt wurde. Noch aus der Zeit von Pfarrer Fliedner liegt ein Bericht von Diakonisse Luise Rüegger vor über ihren Dienst in der Gemeindepflege in Riehen von Januar bis August 1879. Sie hatte 21 bis 81 Besuche pro Monat zu machen. In den 8 Monaten waren es insgesamt 469 Kranken- und 22 Armenbesuche, d. h. also etwa 2 Besuche im Tagesdurchschnitt und dazu 16 Nachtwachen. Das war natürlich keine volle Beschäftigung für eine Gemeindeschwester. Wahrscheinlich half sie in der freien Zeit im Krankenhaus. Sie fand bei ihren Patienten viel Armut. Einer alten Frau, die nur «ein einfaches, altes, armes Bett in einem Kastentrog» hatte, konnte sie mit Hilfe einer wohlhabenden Dame zu einem rechten Bett verhelfen, anderen zu sauberer Bettwäsche. Anderen konnte sie mit Brot, Fleisch, Zucker, Wein oder auch mit einer kräftigen Suppe aus der Spitalküche aushelfen. Wenn ihr Armenkässeli leer gewesen sei, sei es immer wieder durch Gaben wohltätiger Menschen neu gefüllt worden.


1881 vernehmen wir einmal, dass die vielen Dorfbewohner, die damals den Gottesdienst in der Diakonissenkapelle besuchten, wünschten, dass das dort eingesammelte Opfer den Armen der Gemeinde Riehen zugute komme. Es wurde beschlossen, dass es der «Gemeindeschwester» übergeben werden solle, damit sie mit diesen Mitteln ihren Patienten in allerlei Nöten helfen könne. 1882/83 hatte die damals junge Schwester Mathilde Schweizer die «Dorfpflege» zu besorgen. Sie schreibt einmal, unter den Dorfleuten habe sie sich daheim gefühlt wie in ihrem lieben Oberdorf im Baselbiet, wo sie aufgewachsen war. Wenn ich mich recht erinnere, hat sie später, als sie Hausmutter im jetzt abgerissenen Feierabendhaus der Schwestern war, immer wieder gerne die Patienten im Dorf besucht. Sie besass damals ein kleines «Handörgeli», auf dem sie Volkslieder und Choräle spielen konnte. Wie sie mit diesem ihrem kleinen Instrument ihren Mitschwestern manche frohe Stunde bereitet hat, so hat sie wohl auch den Kranken und Alten im Dorf mit ihrem Spielen und Singen Trost und Freude gebracht.


Es ist anzunehmen — obschon wir keine schriftlichen Beweise dafür haben —, dass seit den achtziger Jahren immer wieder eine jüngere oder ältere Schwester bestimmt war, sich der Kranken im Dorf anzunehmen. Je mehr aber das Dorf wuchs, desto weniger konnte diese «Hilfe von Fall zu Fall» befriedigen, desto mehr musste unter der Bevölkerung der Wunsch nach einer eigenen, ganz der Gemeinde zur Verfügung stehenden Gemeindeschwester laut werden. Wie es dazu kam, mag im nächsten Jahrbuch geschildert werden, wenn der Krankenpflegeverein Riehen auf 50 Jahre seines Bestehens zurückblicken darf.


Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1972

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