Von der Trainierbarkeit des Körpers im Alter

Daniel Louis Meili

Vor 25 Jahren sorgten 172 Seniorinnen und Senioren schweizweit für Aufsehen. Sie hatten an einer nationalen Studie zur Trainierbarkeit im Alter teilgenommen und gezeigt, dass auch ein älterer Organismus trainierbar ist. Was aber war damals so besonders, was haben sie genau trainiert? Und wie profitieren die Seniorinnen und Senioren in Riehen heute von den Ergebnissen dieser Studie?

Im Rahmen einer Studie1 trainierten Männer und Frauen zwischen 65 und 75 während eines halben Jahres zweimal wöchentlich ihre Muskeln so, wie es junge Leistungssportler und -sportlerinnen tun – nicht mit denselben Gewichten und Belastungen, aber nach demselben Prinzip, also immer in einem Bereich zwischen 70 und 90 Prozent ihres maximalen Belastungsvermögens, gefolgt von dazugehörenden Erholungsphasen. Die Ergebnisse waren erstaunlich: Der Zuwachs an Beinkraft betrug bei den Frauen 53 Prozent, bei den Männern 48 Prozent. Die Ermüdungswiderstandsfähigkeit (Ausdauer) nahm um 4 Prozent zu. Interessanterweise wurde dieser Zuwachs in der subjektiven Empfindung der Teilnehmenden weit höher eingeschätzt, weil ihnen tägliche Verrichtungen wie Einkaufen oder Gartenarbeit, die einen hohen Kraftanteil erfordern, nun buchstäblich leichter fielen. Auch die Beweglichkeit erhöhte sich dank physiotherapeutischer Begleitung um 45 Prozent – trotz der enormen gleichzeitigen Kraftzunahme. Die Koordination beim Lösen von kniffligen Bewegungsaufgaben nahm um stattliche 91 Prozent zu, die Gewandtheit bei komplexen Bewegungsfolgen im Raum auf Zeit und damit die aktive Sturzprävention stiegen gar um 136 Prozent. Zum Studienverlauf: Vor dem Training wurden alle Seniorinnen und Senioren von einem Arzt auf mögliche gesundheitliche Risiken untersucht, eine Physiotherapeutin testete ihre Muskeln, Gelenke sowie den Bewegungsapparat und ein Trainer befragte sie zu ihrer Motivation. Anschliessend wurde der erste Leistungstest durchgeführt. Auf der Grundlage all dieser Werte stellte das Leitungsteam die individuellen Trainingspläne zusammen. Die einzelnen Trainings erfolgten in Kleingruppen und waren immer von einem Physiotherapeuten oder einer Physiotherapeutin begleitet. Das war einerseits ein Luxus, bot aber gleichzeitig die Möglichkeit, das Verhalten der Teilnehmenden zu beobachten und mögliche Probleme rechtzeitig zu erkennen. Das individuelle Leistungstraining wurde protokolliert und nach jeweils drei Wochen ausgewertet und angepasst. Nach drei Monaten erfolgten wiederum ein Leistungstest und eine ärztliche Untersuchung. Die Physiotherapeutin nahm erneute Tests vor und verglich die Ergebnisse mit den Ausgangswerten. Der Trainer fragte nach dem individuellen Trainingsverlauf und den (teilweise neuen) Aussichten, Zielen und Wünschen. Daraufhin wurden die Trainingspläne entsprechend angepasst und verfeinert. Nach weiteren drei Monaten erfolgte eine Schlussauswertung, wiederum durch Arzt, Physiotherapeutin und Trainer, und ein Schlusstest hielt das neue maximale Leistungsvermögen fest.

FORDERN IST WICHTIGER ALS SCHONEN
Die Zahlen der Studie zeigen eindrücklich, dass auch ein älterer Organismus an seinen Aufgaben wächst und somit trainierbar ist. Die vor Studienbeginn vorherrschende Überzeugung, wonach im Alter primär Schonung wichtig sei für das Wohlbefinden, erwies sich als nicht allgemeingültig. Denn die Begleituntersuchungen zeigten auf, dass mit dem körperlichen Training auch der mentale Bereich und das seelische Gleichgewicht deutlich verbessert werden konnten. Somit erhöhte das relativ strenge Training die Lebensqualität nachweislich. Die Studie zeigte auch, dass Frauen in der Regel besser trainierbar sind als Männer. Dafür gibt es mannigfaltige Gründe. Die Interviews deckten einen besonderen auf: Die Frauen lernten aufgrund der optimalen Rahmenbedingungen während der Studie, sich etwas näher als üblich an ihre Grenzen heranzutasten. Und sie realisierten, dass sie ihre eigenen Fähigkeiten fördern können, indem sie sich fordern. Wenn vor einem Vierteljahrhundert im Alter Schonung empfohlen wurde, dann nicht zuletzt deshalb, weil einem das Leben damals deutlich mehr abverlangt hatte, als es heute der Fall ist. Die Automatisation war noch längst nicht so weit fortgeschritten und Entbehrungen waren allgegenwärtig, als die damaligen Alten noch jünger waren. Sie hatten körperlich noch richtiggehend ‹gchrampft›. Das hat sich grundlegend geändert. Die meisten Seniorinnen und Senioren von heute waren im arbeitsfähigen Alter körperlich längst nicht mehr so intensiv tätig. Also wird diese ‹Inaktivität› heute auf freiwilliger Basis gerne mit Sport und Bewegung kompensiert. Dennoch ist ein Training nach leistungssportlichen Kriterien nicht jedermanns Sache. Nur rund ein Drittel der Bevölkerung ist überhaupt regelmässig sportlich aktiv. Deshalb ist es auffallend, wie viele hochstehende sportliche Angebote für die ältere Bevölkerung in Riehen anzutreffen sind. Die Studienresultate haben auch Mut gemacht, nicht einfach aufzuhören mit dem Training ab einem gewissen Alter. Im Gegenteil: Nach der Pensionierung hat man mehr Zeit denn je, sich körperlich aktiv etwas Gutes zu tun.

SENIORENSPORT-ANGEBOTE IN RIEHEN
Für alle ‹jungen› Alten gibt es in Riehen drei Segmente, in denen Sport im weitesten Sinn angeboten wird. Das erste umfasst niederschwellige und kostenlose oder günstige Sportangebote für Männer und Frauen, die ohne weitere Verpflichtung besucht werden können. Dazu gehören die Angebote des Vereins ‹Gsünder Basel›: Thai Chi oder Pilates in der Wettsteinanlage oder Aqua-Gymnastik im Naturbad, an der wöchentlich bis zu 80 Personen teilnehmen, sowie themenfokussierte Bewegungswochen in Kooperation mit Sportvereinen und Sportstudios. Ausserdem gibt es die Angebote des ‹Café Bâlance› im Freizeitzentrum Landauer sowie im Schlipf, das Seniorenturnen im Andreashaus und dasjenige im Haus der Vereine, die Seniorentanz-Veranstaltungen im Landgasthof und die vielfältigen, von der Pro Senectute organisierten Krafttrainings- und Fitness-Angebote. An all diesen Programmen beteiligt sich die Gemeinde Riehen in irgendeiner Weise, sei es durch Leistungsvereinbarungen mit den Anbietern, durch Mietzinsbeihilfen oder weitere Leistungen, und macht dadurch solche kostenlosen oder sehr günstigen Angebote überhaupt erst möglich. Das zweite Segment umfasst den klassischen Vereinssport, der vielen Seniorinnen und Senioren auch im Rentenalter eine (sportliche) Heimat bietet. Allerdings ist eine Vereinsmitgliedschaft nötig und der Grad der Verpflichtung ist etwas höher. Gleichzeitig profitieren die Vereine vom langjährigen Know-how ihrer älteren Mitglieder für sportliche Anlässe, Meisterschaften sowie Feste. Der rege Austausch zwischen Alt und Jung ist ein weiterer Bestandteil des Vereinslebens, der anspornt und guttut. Die 35 Vereine und Sektionen Riehens mit einem beachtlichen Seniorenanteil betreiben jene Sportarten und Disziplinen, die auch die Jugendlichen und Aktiven betreiben, und zwar auf einem dem Alter angepassten Wettkampfniveau. In der Leichtathletik gibt es beispielsweise Europa- und Weltmeisterschaften für bis zu 90-Jährige; so sehen sich Sportlerinnen und Sportler über Jahrzehnte auf allen Kontinenten wieder und können ihre Bekanntschaften weiterpflegen. Es gibt aber auch erfolgreiche Bestrebungen, im Alter vom eigenen Wettkampfsport wegzukommen und sich polysportiver zu betätigen. Und schliesslich soll im Verein auch das Gesellige nicht zu kurz kommen! Das dritte Segment rundet mit privaten, kommerziellen Angeboten die Sportprogramme in Riehen ab. Seit vielen Jahren bekannt ist die Sportarena, die seit Neuestem im Dorfzentrum zu Hause ist, und die Migros hat dieses Jahr im Niederholz einen Fitnessbetrieb eröffnet. Das Geschäftsmodell beider Anbieterinnen orientiert sich an den Trainingsmethoden der eingangs erwähnten Studie. Bei der Sportarena kommt hinzu, dass das Gründerpaar selbst viel Erfahrung im Leistungssport hat und diesen Geist im positiven Sinn an die Kundschaft weitergibt – und weil die ehemalige Volleyball-Nationalspielerin Caroline Gugler und der ehemalige Spitzen-Zehnkämpfer Christian Gugler selbst auch nicht mehr die Jüngsten sind, wissen sie, was Seniorinnen und Senioren können und brauchen. Das Thema Sport ist auch im Hochalter ab 80 Jahren und gerade in den Alters- und Pflegeheimen (AHP) nicht abwegig. Im Gegenteil: Alle AHP in Riehen – das Humanitas, das Wendelin, das Dominikushaus sowie das Adullam Pflegezentrum – verfügen über eigene sport- und bewegungsorientierte Programme für die Bewohnerinnen und Bewohner, teilweise sogar für Externe, zum Beispiel für Tagesaufenthalter. Und alle AHP haben ausgebildetes Personal für diese Trainingsprogramme. So verwundert es nicht, dass sich die Sprache der Aktivierungstherapeuten und -therapeutinnen an das Vokabular des Leistungssports anlehnt: Auch beim Turnen im Sitzen wird von ‹Schnellkraftübungen› gesprochen, die den 90- bis 100-jährigen Teilnehmenden helfen sollen, so lange es geht grösstmögliche Selbstständigkeit zu erhalten. Deshalb sind auf den Fluren oder in Gruppenräumen der AHP auch altersgerechte Ergometer aufgestellt, mit denen die Bewohnerinnen und Bewohner jederzeit, allein oder in Kleingruppen, selbstständig den Kreislauf anregen und in Schwung halten können und somit ihre Ausdauer trainieren. Sport und die Schulung der Beweglichkeit gehört in den AHP schon fast zum Alltag, mit und ohne Physiotherapie.

FIT BIS INS HOHE ALTER DURCH REGELMÄSSIGE BEWEGUNG
Alle diese Angebote und Einrichtungen für Seniorinnen und Senioren bis ins Hochalter zeigen, dass Riehen ein erfreulich breites, qualitativ hochstehendes ‹sportliches› Niveau aufweist mit einer Vielfalt von Angeboten. Gerade in den Sommermonaten scheinen in Riehen überdurchschnittlich viele sportlich aktive Alte unterwegs zu sein. Wer sich mit einem Paar Turnschuhen ausrüstet, kann natürlich auch problemlos ‹unorganisiert› Sport treiben – alleine, mit dem Hund oder mit Freunden und Freundinnen. Das ‹Dorf› mit seinen Parkanlagen und der unmittelbaren Umgebung lädt geradezu ein für Spaziergänge oder kurze Wanderungen. Der hügelige Wald-Parcours mit der Finnenbahn am Ausserberg oder der flache Vita-Parcours in den Langen Erlen sind ideal, wenn es ein wenig intensiver sein darf. Dann gibt es auch diverse Bike-Routen und die Grendelmatte mit dem neuen Streetwork-Openair- Krafttrainingspark für alle, ob jung oder alt. Riehen ist also bestens aufgestellt, dass niemand dafür beten muss, mit einem gesunden Geist in einem gesunden Körper zu leben, wie es die römische Redewendung vorschlägt: «orandum est ut sit mens sana in corpore sano». In Riehen lässt sich nämlich bis ins hohe Alter leicht etwas dafür tun.

1 Der Autor ist Trainer Swiss-Olympic und war
Leiter der eingangs erwähnten nationalen
Studie mit dem Titel ‹Seniorentraining›, die
1994 mit dem Wissenschaftlichen Preis der
Schweizerischen Gesellschaft für Sportmedizin
ausgezeichnet wurde.

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2019

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