Austausch eines Engels gegen fünf Monster

Stefan Hess

Vor 225 Jahren, am 26. Dezember 1795, trafen 20 Franzosen, darunter fünf Abgeordnete des Nationalkonvents, als österreichische Staatsgefangene in Riehen ein. Sie wurden ausgetauscht gegen Marie-Thérèse Charlotte de Bourbon, Tochter des französischen Königs Ludwig XVI.

«Ist Allhier in Riechen etwas Grosses in der Landvogteÿ vor gegangen, welches niemahl geschächen und kaum mehr geschächen wird». So begann der Riehener Weibel Hans Jakob Schultheiss (1730–1810) seinen Bericht über ein Ereignis, das sich zu einem wesentlichen Teil in Riehen abgespielt hatte.1 Ähnlich äusserten sich später die Lokalhistoriker: Riehen sei damals «auf einen Augenblick mitten in die grosse Weltgeschichte jener Zeit gerückt worden», bemerkte etwa 1923 der Basler Schriftsteller Paul Siegfried.2 Ein halbes Jahrhundert später schrieb Michael Raith der Gemeinde gar eine aktive Rolle zu: «Der 26. Dezember 1795 ist der bislang einzige Tag, an dem Riehen Weltgeschichte gemacht hat.»3 Diese fast überschwänglichen Worte gelten einem Gefangenenaustausch zwischen Österreich und Frankreich, der bereits 1923 in der ‹Geschichte des Dorfes Riehen› ausführlich, wenn auch fehlerhaft beschrieben wurde. Darüber hinaus fand die Episode Eingang in mehrere Überblicksdarstellungen zur Französischen Revolution, ja selbst in Universalhistorien, wenngleich dort der wichtige Schauplatz Riehen selten namentlich genannt wird.

EINE PRINZESSIN ALS LOCKVOGEL
1795 herrschte in grossen Teilen West- und Mitteleuropas Krieg: Das revolutionäre Frankreich hatte im April 1792 Österreich den Krieg erklärt, worauf der Erste Koalitionskrieg ausbrach. Die Eidgenossenschaft blieb zwar neutral, doch kam es in der unmittelbaren Nachbarschaft Riehens wiederholt zu Kriegshandlungen. Deshalb wurde im Dorf zeitweise ein bis zu 90 Mann starkes Kontingent eidgenössischer Soldaten stationiert.4 In Frankreich ging der Krieg mit einer innenpolitischen Radikalisierung einher: Am 21. September 1792 proklamierte der Nationalkonvent die Republik. Der abgesetzte König Ludwig XVI. wurde am 21. Januar 1793 hingerichtet und knapp neun Monate später auch seine Frau Marie- Antoinette. Es folgte eine Phase, die von Machtkämpfen und Fanatismus geprägt war. Im Lauf des Jahres 1795 konsolidierte sich die Lage Frankreichs: Zwischen April und August gelang es der Regierung, mit zwei Hauptgegnern der Französischen Republik, Preussen und Spanien, sowie mit Hessen-Kassel Separatfrieden abzuschliessen. Der damalige Basler Stadtschreiber Peter Ochs spielte bei den Unterredungen eine zentrale Rolle als Vermittler, weshalb die Friedensverträge in Basel unterzeichnet wurden. 5 Parallel dazu verhandelte Frankreich mit Österreich über einen Austausch der zur Waise gewordenen französischen Prinzessin Marie-Thérèse Charlotte (1778–1851) gegen 20 Franzosen, die in verschiedenen österreichischen Garnisonen als Staatsgefangene inhaftiert waren.6 Österreich konnte den entsprechenden Vorschlag des französischen Nationalkonvents vom 30. Juni 1795 ohne Prestigeverlust bei den Monarchen Europas kaum ausschlagen, da ‹Madame Royale›, wie die französische Prinzessin genannt wurde, durch ihre Mutter eine Cousine des amtierenden Kaisers Franz II. war. Die Verhandlungen über die Modalitäten des Austauschs fanden wiederum in Basel statt. Unterhändler waren einerseits der österreichische Gesandte in der Schweiz, Sigmund Ignaz Freiherr von Degelmann, andererseits der Sekretär der französischen Botschaft, der Elsässer Théobald Bacher (1748–1813). Eine wichtige Rolle als Mittelsmann spielte der Basler Bürgermeister Peter Burckhardt. Auf seinen Vorschlag hin wurden Riehen und das Reber’sche Landgut vor dem St. Johanns- Tor als Übergabeorte bestimmt.7

DAS SCHICKSAL DER FRANZÖSISCHEN STAATSGEFANGENEN
Zwischen dem 13. und 27. November 1795 trafen die 20 französischen Staatsgefangenen in Freiburg im Breisgau ein, wo sie alle im selben Gebäude, aber in separaten Zimmern untergebracht wurden. Zuvor waren sie von ihren Gefängnissen in Mähren, Böhmen, im Tirol und in der Lombardei unter strenger Bewachung hierher übergeführt worden. Die Prominentesten unter ihnen waren der frühere Kriegsminister Pierre Riel de Beurnonville (1752–1821) sowie die Konventsdeputierten Arman-Gaston Camus (1740–1804), Jean Henri Bancal (1750–1826), Nicolas-Marie Quinette (1762–1821), François Lamarque (1753–1839) und Jean-Baptiste Drouet (1763–1824). Letzterer war im Oktober 1793 in Maubeuge als Angehöriger der französischen Nordarmee in österreichische Gefangenschaft geraten. Die anderen hatten zur Delegation gehört, die im April 1793 den abtrünnigen General Charles-François Dumouriez in Nordfrankreich hätten verhaften sollen, jedoch von diesem selbst gefangen gesetzt und den Österreichern ausgeliefert worden waren.8 Dazu kamen die beiden Gesandten Charles-Louis Huguet de Sémonville (1759–1839) und Hugues-Bernard Maret (1763–1839) samt Gefolge, die im Juli 1793 auf diplomatischer Mission im Veltlin von den Österreichern gefangen genommen worden waren. In Freiburg mussten die Gefangenen mehrere Wochen auf die Weiterfahrt warten, da sich die Abreise der Prinzessin aus Paris verzögerte.

ZWISCHENHALT IN RIEHEN
Am 25. Dezember 1795 traf in Freiburg endlich die Nachricht ein, dass die französische Prinzessin in der Festung Hüningen eingetroffen sei. Noch am selben Tag, gegen zehn Uhr abends, brachen die auf verschiedene Kutschen verteilten Staatsgefangenen auf, eskortiert von einem Detachement österreichischer Soldaten unter der Leitung eines Oberstleutnants. Am folgenden Tag, um zwei Uhr nachmittags, trafen sie in Riehen ein, wo sie vor der Landvogtei Halt machten. Dort wurden sie der Obhut des Riehener Landvogts Lukas Legrand übergeben. Dieser rief anhand einer ihm ausgehändigten Liste alle Staatsgefangenen auf, damit sich der französische Gesandtschaftssekretär Bacher, der, von Basel her kommend, gleichzeitig mit dem Gefangenenkonvoi in Riehen angelangt war, sich von der richtigen Anzahl und Identität der Personen überzeugen konnte. Zwischen Österreich und Frankreich war im Vorfeld vereinbart worden, dass sich die Auswechslung in aller Stille abspielen und darüber auch kein amtliches Protokoll geführt werden solle. Die Basler Obrigkeit war ebenfalls um Geheimhaltung bemüht, weshalb – wie der Riehener Weibel Schultheiss festhielt – «kein Burger in der Statt nichts darVon gewusst, sonst würde es ein grosser zu lauf aus der Statt gewässen sein».9 Trotz aller Diskretion hatten zwei revolutions- und frankreichfreundliche Basler, der Wirt Johann Jakob Erlacher (1754–1821) und der frühere Berufsoffizier Remigius Frey (1765–1809), vom vereinbarten Austausch erfahren und sich rechtzeitig in Riehen eingefunden, um die Franzosen bei ihrer Ankunft zu begrüssen. Nach Abschluss der Identitätskontrolle wurden die Staatsgefangenen von Legrand ins Innere der Landvogtei geführt. Vor jeder Tür stand zur Bewachung ein kaiserlicher Unteroffizier, während vor dem Gebäude 24 Mann der Riehener Dorfmiliz unter Feldweibel Niklaus David (1763–1831) und Wachtmeister Johann Siegwald (1767– 1814) für Ruhe und Ordnung zu sorgen hatten. Damit die Franzosen die Stunden bis zu ihrer endgültigen Befreiung überbrücken konnten, habe Legrand im Innern der Landvogtei «die neuesten und ausgesuchtesten Journale und mehrere Exemplare von der französischen Konstitution» aufgelegt, wie sie später vor dem französischen Nationalkonvent ausführten.10 Dieser insgesamt unverkennbar propagandistisch angelegte Bericht scheint in diesem Punkt durchaus glaubhaft, denn Legrand, der offen mit der Französischen Republik sympathisierte, wird sich aus besonderem Interesse gedruckte Ausgaben der am 23. September 1795 in Kraft getretenen neuen Verfassung angeschafft haben, ja er besass davon sogar nachweislich ein prächtig eingebundenes Exemplar.11 Um den Staatsgefangenen in der Landvogtei aufzuwarten, hatte Legrand drei angesehene Riehener Männer aufgeboten: den bereits genannten Weibel Hans Jakob Schultheiss, den Kirchmeier und Statthalter des Untervogts Hans Jakob Stump (1740–1813) und dessen Bruder, den Rössliwirt Johannes Stump (1746–1814). Die drei waren gemäss den Aufzeichnungen von Schultheiss aufgefordert, «mit zu trinken, welches auch geschächen»; dabei hätten sie «die Neüwe einrichtung in Franckreich Freyheit und Gleichheit auch empfunden».12 Diese Worte deuten auf unverhohlene Sympathien für die neuen Verhältnisse in Frankreich hin, welche die Riehener Dreierdelegation kaum erst «unter Alkoholeinfluss entdeckt habe», wie Michael Raith schreibt.13 Vielmehr fanden die neuen Ideen aus dem westlichen Nachbarland in den eidgenössischen Untertanengebieten oft begeisterte Aufnahme. Gerade die ländlichen und kleinstädtischen Eliten versprachen sich von der Entwicklung in Frankreich positive Auswirkungen auf die Verhältnisse im eigenen Land. Dies gilt zweifellos auch für Riehen, zumal der Kleine Rat 1791 unter dem Eindruck der Französischen Revolution mit der Abschaffung der Leibeigenschaft bereits eine erste, obgleich im Alltag kaum spürbare Verbesserung der Stellung der Landbevölkerung bewilligt hatte.14

DER DURCHZUG DER ‹MADAME ROYALE›
Während die französischen Staatsgefangenen in Riehen auf ihre endgültige Befreiung warteten, fuhr Bacher in einer Kutsche über Basel nach Hüningen, um dort Marie- Thérèse Charlotte de Bourbon und ihre Begleiterinnen abzuholen und sie an den vereinbarten Übergabeort zu geleiten. Vor dem Reber’schen Landgut wurde die Prinzessin vom österreichischen Gesandten Degelmann und dem ebenfalls in österreichischen Diensten stehenden Niederländer Charles-Alexandre de Gavre (1759–1832) in Empfang genommen. Anschliessend offerierte ihr der Gutsbesitzer Niklaus Reber-Passavant (1735–1821) im Innern des Hauses einen kleinen Imbiss. In der Zwischenzeit wurde das Gepäck aus den beiden aus Paris gekommenen Kutschen auf jene übertragen, die zur Abholung der Prinzessin aus Wien eingetroffen waren. Nach acht Uhr abends – die Zeitangaben sind in den Quellen uneinheitlich – brach ‹Madame Royale› mit ihrem Gefolge auf. Zum Schutz und als Ehrenwache wurde sie von eidgenössischer Kavallerie begleitet. Um möglichst wenig Aufsehen zu erregen, war ursprünglich geplant, die Stadt zu umfahren und bei St. Margarethen den Birsig zu durchqueren, um auf dem linken Rheinufer ins damals noch österreichische Fricktal zu gelangen. Da der Birsig nach anhaltendem Regen stark angeschwollen war, entschied man sich jedoch, durch die Stadt zu fahren. Dort hatte sich in der Zwischenzeit die Kunde von der Ankunft der französischen Prinzessin wie ein Lauffeuer verbreitet, sodass – wie verschiedene Zeitzeugen berichten – bei der Durchfahrt des Konvois immer wieder Rufe wie «Vive la Princesse», «Vive Madame Royale» oder «Vive Marie-Thérèse-Charlotte de France» zu hören waren. Aber nicht alle Schaulustigen waren der Prinzessin wohlgesinnt. So berichtet Emanuel Merian (1753–1837), Wirt zum Wilden Mann und Informant von William Wickham (1761–1840), dem britischen Gesandten in der Schweiz, dass auch das Revolutionslied ‹Ah! ça ira› zu hören war, das dazu auffordert, alle Aristokraten aufzuhängen.15 Nach übereinstimmenden Berichten verliessen die insgesamt sechs Kutschen und die sie begleitenden Reiter die Stadt nicht – wie dies Siegfried in der ‹Geschichte des Dorfes Riehen› schreibt16 – durch das St. Alban-Tor, sondern durch das Riehentor. Von hier aus ging die Reise – den Riehener Bann berührend – zunächst nach Wyhlen, wo der Konvoi erstmals österreichisches Gebiet erreichte und die eidgenössischen Reiter durch ein Detachement kaiserlicher Husaren abgelöst wurden.17 Danach fuhr die Prinzessin mit ihrem Geleitzug weiter über Rheinfelden nach Laufenburg, wo sie auf ihrer 18-tägigen Reise nach Wien das erste Mal übernachtete.

DER EINZUG DER FRANZOSEN IN BASEL
Noch vor dem Aufbruch der Prinzessin hatte sich der französische Gesandtschaftssekretär Bacher mit der österreichischen Bescheinigung über die Übergabe der Prinzessin wieder nach Riehen zur Landvogtei begeben, «worauf der Landvogt von Riehen sogleich den französischen Bürgern ankündigte, dass sie vollkommen frey wären».18 Um halb zehn Uhr abends brachen die befreiten Franzosen in Riehen auf, begleitet von Bacher, je sechs eidgenössischen Dragonern und österreichischen Offizieren sowie einigen weiteren Personen. Um zehn Uhr fuhren sie ins nächtliche Basel ein, und zwar durch das Riehentor, durch das die Prinzessin die Stadt wohl kaum viel mehr als eine Stunde vorher verlassen hatte. Dies ist insofern bemerkenswert, als die Österreicher im Vorfeld grossen Wert darauf gelegt hatten, dass die einzige Überlebende der französischen Königsfamilie den freigelassenen Franzosen auf keinen Fall begegnete. Hintergrund für diese Bedingung war der Umstand, dass mehrere der gefangenen Franzosen im Nationalkonvent für die Hinrichtung des Königs Ludwig XVI. gestimmt hatten. Zudem war es Jean-Baptiste Drouet gewesen, der im Juni 1791 als Postmeister von Sainte-Menehould den König auf der Flucht erkannt und seine Verhaftung veranlasst hatte. Dies wurde von den Zeitgenossen als pikant angesehen und liess die Franzosen offenbar sogar befürchten, die Österreicher würden Drouet die Rückreise verweigern.19 Die Ankunft der freigelassenen Staatsgefangenen stiess in der Stadt ebenfalls auf grosses Interesse, wenn auch nicht im gleichen Ausmass wie der Durchzug der Prinzessin. Vor dem Hotel ‹Les Trois Rois›, wo die Franzosen abstiegen, hatten sich Anhänger der Französischen Revolution, sogenannte ‹Patrioten› versammelt und riefen den Ankommenden «Vive la République» und «Vivat!» entgegen.20 Am folgenden Tag waren die vormaligen Staatsgefangenen und einige Franzosenfreunde aus Basel, darunter auch der Riehener Landvogt Legrand, beim französischen Gesandten in der Schweiz, François Barthélemy (1747–1830), zu einem Bankett eingeladen.21 Am 28. Dezember 1795 verliessen sie Basel, um nach Frankreich zurückzukehren. Anders als sie später in ihrem Bericht vor dem Nationalkonvent kundtaten, wurde ihnen auf ihrer Reise nach Paris offenbar nicht überall uneingeschränkte Anteilnahme und Sympathie entgegengebracht. Jedenfalls berichtet ein Informant des britischen Gesandten Wickham, bei ihrer Ankunft in Hüningen habe das Volk mit Bezug auf die französische Prinzessin und die fünf Konventsabgeordneten unter den Freigelassenen geschrien: «Nous perdons un ange et on nous donne à sa place cinq monstres!»22

DER GEFANGENENAUSTAUSCH ALS MEDIENEREIGNIS
Der Tausch der französischen Königstochter gegen 20 Staatsgefangene Österreichs erregte in West- und Mitteleuropa einiges Aufsehen. Die Nachricht verbreitete sich allerdings wesentlich langsamer als im heutigen Zeitalter der digitalen Medien. Ein aus Böhmen stammender Berufssoldat berichtet etwa in seinen Memoiren, dass die in Mannheim stationierten österreichischen Truppen erst am 14. Januar 1796 von der Befreiung der Prinzessin erfahren hätten.23 Am selben Tag informierte die in Gotha erscheinende ‹National-Zeitung der Deutschen› knapp über den vollzogenen Austausch und deutete diese als Zeichen für ein baldiges Kriegsende. Schon damals wurden mit der allgemeinen Sensationslust Geschäfte gemacht. Die Aufmerksamkeit richtete sich dabei vor allem auf die Prinzessin Marie-Thérèse Charlotte, die aufgrund ihrer Herkunft und ihres Schicksals eine Person von hohem öffentlichem Interesse war. Seit ihrer Abfahrt aus Paris lauerten ihr überall Miniaturmaler und Zeichner auf, in der Hoffnung, ihr Porträt zumindest skizzenhaft festhalten zu können. Bereits am 27. Dezember 1795 tauchte in Basel ein kleines Porträtmedaillon von der Prinzessin auf und am 13. Januar 1796, vier Tage nach ihrer Ankunft in Wien, wurden dort gleich vier Kupferstiche und Miniaturporträts zum Verkauf angeboten.24 Am 28. Januar kündigte der Basler Kupferstecher und Verleger Christian von Mechel in einem Anzeigeblatt der Stadt an, dass in seinem Verlag «ein interessantes Kupferstück, vorstellend: Die Ankunft der Königl. Prinzessin Maria Theresia Charlotte, Tochter Ludwig des XVIten, auf hiesigem Boden des Abends vom 26ten Christmonat 1795» erscheine.25 Die Vorzeichnung dazu wie auch die Aquatinta- Radierung selbst stammten von Antoine Sergent, einem aus Paris geflohenen Jakobiner.26 Die Nachfrage nach dieser Darstellung muss gross gewesen sein, denn sie wurde in Holland und England nachgestochen.27 Ab dem Februar wurde in den Basler Buchhandlungen überdies ein Almanach mit dem Titel ‹Les Adieux de Marie-Thérèse-Charlotte de Bourbon› angeboten, dem auch ein Porträtmedaillon beigegeben war. Die Schrift wurde ebenfalls in Basel gedruckt, scheint aber ebenso in Paris – obgleich nur «sous le manteau», also insgeheim – vertrieben worden zu sein, wie ein Zeitzeuge in seinen Memoiren berichtet.28 Auch dem Schicksal der 20 Franzosen, die mehr als zwei Jahre in österreichischen Festungen gefangen gehalten worden waren, wurde in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit entgegengebracht. So bot der Basler Buchhändler Johann Jakob Flick (1745–1818) am 17. März 1796 eine gedruckte Ausgabe des Berichts, den die freigelassenen Volksvertreter nach ihrer Ankunft in Paris im Nationalkonvent erstattet hatten, zum Kauf an, während die Decker’sche Buchhandlung davon gleichentags bereits eine deutsche Übersetzung anpries.29 Um die gleiche Zeit brachte Christian von Mechel überdies eine ebenfalls von Antoine Sergent entworfene Aquatinta- Radierung mit der Ankunft der Gefangenen in Riehen auf den Markt.30 Das Blatt ist heute in einigen öffentlichen Sammlungen des In- und Auslands vertreten, dürfte aber, da keine Nachdrucke davon bekannt sind, weniger begehrt gewesen sein als das Gegenstück mit der ‹Madame Royale›. Die Einzelheiten der detaillierten, personenreichen Darstellung darf man keineswegs als authentisch ansehen. Denn selbst ein routinierter Künstler wie Sergent wäre nicht in der Lage gewesen, einen flüchtigen Ausschnitt einer Begebenheit bis ins Detail mit dem Zeichenstift festzuhalten – sofern er die Darstellung nicht gar allein anhand von Augenzeugenberichten anfertigte. Der Erfolg solcher Blätter beruhte aber gleichwohl auf einer ‹behaupteten Authentizität›, die durch «eine wenigstens annähernd glaubwürdige Darstellung der Ereignisse» erreicht wird.31 So legte Sergent offensichtlich Wert darauf, die gleichsam als Hintergrundkulisse dienende Landvogtei als überprüfbaren Bildgegenstand möglichst detailgetreu wiederzugeben, wofür er möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal nach Riehen hinausfuhr, falls ihm keine passende Vorlage zur Verfügung stand. Diesem Umstand verdanken wir die älteste detaillierte Darstellung eines der wichtigsten historischen Gebäude in Riehen. Darüber hinaus versuchte der Künstler den Eindruck anekdotischer Evidenz zu erzeugen, indem er das Ereignis in parallel stattfindende Einzelepisoden zerlegte. So ist im Vordergrund, links von der Mitte, eine vornehm gekleidete Frau dargestellt, die offenbar in Ohnmacht zu fallen scheint und dabei von einem Mann aufgefangen wird. Links daneben hebt ein weiterer Mann ein Kind empor. Gemäss einem mit ‹Notice historique› überschriebenen Textblatt, das gemeinsam mit der Aquatinta-Radierung vertrieben wurde, handelt es sich bei den Personen dieser Willkommensszene um den Diplomaten Charles-Louis Huguet de Sémonville mit Gattin und Sohn sowie seinen ebenfalls in Gefangenschaft geratenen Diener.32 Angélique Aimée de Sémonville, geborene de Rostaing, hatte zuvor mit ihrem jüngsten Sohn mehrere Wochen in Basel auf die Ankunft ihres Gatten gewartet. Den Franzosen war nämlich bereits nach der Abfahrt aus ihren Gefängnissen erlaubt worden, mit ihren Angehörigen und Freunden brieflich Kontakt aufzunehmen.33 Darüber hinaus benennt das Erklärungsblatt eine Reihe weiterer Personen und unterstreicht damit den Anspruch auf Authentizität, wiewohl das Arrangement stark an ein Historiengemälde erinnert. Jedenfalls bildet das druckgrafische Blatt, das noch in einigen Basler und Riehener Haushalten anzutreffen ist, bis heute das einzige sichtbare Zeugnis einer Episode, die Riehen zumindest in Berührung mit der Weltgeschichte brachte.34

1 Zit. nach Michael Raith: Weibel Hans Jakob
Schultheiss erinnert sich, in: z’Rieche 1990,
S. 44–49, hier S. 46.

2 In: L[udwig] Emil Iselin: Geschichte des Dorfes
Riehen, Basel 1923, S. 194.

3 Michael Raith: Johannes Stump und Samuel
Wenk – zwei Riehener Politiker des beginnenden
19. Jahrhunderts, in: z’Rieche 1971,
S. 44–59, hier S. 50.

4 Iselin, Geschichte, S. 192–194.

5 Zum Frieden von Basel vgl. Christian Simon
(Hg.): Basler Frieden 1795. Revolution und Krieg
in Europa, Basel 1995.

6 Nach anderen Quellen waren es 21 Franzosen.

7 Maria Breunlich-Pawlik: Kriegsminister
Beurnonville und vier Mitglieder des
Nationalkonvents als Staatsgefangene in
Österreich 1793–1795, in: Mitteilungen des
Österreichischen Staatsarchivs 24, 1971,
S. 371–399.

8 Rapports des représentants du peuple Camus,
Bancal, Quinette, Lamarque, envoyés par la
Convention, conjointement avec le général et
ministre de Beurnonville … et du représentant
du peuple Drouet, Paris 1796. Im Folgenden
wird aus einer zeitgenössischen deutschen
Übersetzung zitiert: Bericht der Volksrepräsentanten
Camus, Bancal, Quinette, Lamarque
und Drouet über ihre, des Kriegsministers
Beurnonville, und der Gesandten Semonville
und Maret Gefangenschaft im Oestreichischen.
Aus dem Französischen übersetzt nach der
Ausgabe mit Anmerkungen, Frankfurt /
Leipzig 1797.

9 Zit. nach Raith, Weibel, S. 46f.

10 Bericht der Volksrepräsentanten, S. 163.

11 Hans Buser: Johann Lukas Legrand, Direktor der
helvetischen Republik, in: Basler Biographien,
Basel 1900, S. 233–288, hier S. 242.

12 Zit. nach Raith, Weibel, S. 47.

13 Raith, Johannes Stump und Samuel Wenk, S. 50.

14 Peter Ochs: Geschichte der Stadt und
Landschaft Basel, Bd. 8, Basel 1822, S. 108–112;
Christian Simon: Untertanenverhalten und
obrigkeitliche Moralpolitik: Studien zum
Verhältnis zwischen Stadt und Land im
ausgehenden 18. Jahrhundert am Beispiel
Basels, Basel / Frankfurt a. M. 1981, S. 15f., S. 95.

15 Charles D. Bourcart: William Wickham,
britischer Gesandter in der Schweiz (1794–1797
und 1799), in seinen Beziehungen zu Basel, in:
Basler Zeitschrift für Geschichte und
Altertumskunde 7, 1908, S. 1–78, hier S. 60;
G[eorges] Lenôtre: La fille de Louis XVI.
Marie-Thérèse-Charlotte de France, duchesse
d’Angoulème. Le Temple – l’échange – l’exil,
Paris 1907, S. 220.

16 In: Iselin, Geschichte, S. 198f.

17 So in einer kurzen Beschreibung des Ereignisses
durch Bürgermeister Peter Burckhardt (Staatsarchiv
Basel-Stadt, Fremde Staaten, Frankreich
B 3a). Vgl. Raith, Weibel, S. 46f.; Daniel
Burckhardt-Wildt: Tag=buch der Merckwürdigsten
Vorfällen, welche sich seit dem Jahr 1789 in
diesem für unsere Stadt BASEL unvergesslichen
Zeiten zugetragen haben, hg. von André
Salvisberg, Basel 1997, S. 77.

18 Bericht der Volksrepräsentanten, S. 163.

19 Breunlich-Pawlik, Staatsgefangene in
Österreich, S. 393; Raith, Weibel, S. 46;
Burckhardt-Wildt, Tag=buch, S. 78.

20 Lenôtre, La fille de Louis XVI., S. 212;
Burckhardt-Wildt, Tag=buch, S. 78.

21 Vgl. Beat von Wartburg (Hg.): Auszüge aus dem
Tagebuch von Peter Ochs, in: Simon, Basler
Frieden 1795, S. 113–129, hier S. 129.

22 Lenôtre, La fille de Louis XVI., S. 221; ebenso in:
Bourcart, William Wickham, S. 58. Deutsche
Übersetzung: «Wir verlieren einen Engel und
man gibt uns an dessen Stelle fünf Monster!»

23 Gustav Rieck: Der böhmische Veteran. Franz
Bersling’s Leben, Reisen und Kriegsfahrten in
allen fünf Welttheilen. Nach mündlichen und
schriftlichen Mittheilungen bearbeitet,
Schweidnitz 1840, S. 52–56.

24 National-Zeitung der Deutschen, 28. Januar
1796, Sp. 93; Rudolf Riggenbach: Das Porträt
der Madame Royale von Antoine Sergent, in:
Festschrift des Staatsarchivs Basel-Stadt, Basel
1949, S. 95–110.

25 Wochentliche Nachrichten aus dem Bericht-
Haus zu Basel, 28. Januar 1796, S. 34, Nr. 25.

26 Lukas Heinrich Wüthrich: Das OEuvre des
Kupferstechers Christian von Mechel, Basel /
Stuttgart 1959, S. 35, Nr. 87.

27 Ebd., S. 34f., Nr. 86; Riggenbach, Das Porträt der
Madame Royale, S. 106f.

28 [Jean-Pierre-Jacques-Auguste] de Labouïsse-Rochefort:
Trente ans de ma vie (de 1795 à 1826)
ou Mémoires politiques et litteraires, Bd. 1,
Toulouse 1844, S. 165.

29 Wochentliche Nachrichten aus dem Bericht-
Haus zu Basel, 17. März 1796, S. 123, Nr. 11
(deutsche Übersetzung), S. 129, Nr. 85
(Originalausgabe).

30 Wüthrich, Christian von Mechel, S. 40, Nr. 97.

31 Riggenbach, Das Porträt der Madame Royale,
S. 102.

32 ‹Notice historique›, in: Association Bibliorare,
www.bibliorare.com/lot/88883/#&gid=1&pid=1,
Zugriff: 28.05.2020.

33 Bericht der Volksrepräsentanten, S. 160.

34 2019 schenkte der aus Riehen stammende
Christian Jaquet in Bern der Gemeinde Riehen
alle drei Aquatinta-Radierungen, die Christian
von Mechel anlässlich des Gefangenenaustauschs
von 1795 herausgegeben hatte. Die
gerahmten Blätter hingen früher im Klösterli,
Kirchstrasse 8.

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